Geschichten

Hier eine kleine Geschichte, die ich einmal (um-)geschrieben habe. Die Story ist geklaut. Von Stephen King. Aber wir sind sozusagen alte Kumpane; ich kenne ihn immerhin schon fast zwanzig Jahre.
Viel Vergnügen mit meiner Variante von "Der Mauervorsprung".
 
 

Wer wagt, gewinnt


 
"Was wäre, wenn...", beginnt er den Satz mit einem trockenen Lachen. Ich merke, wie sich mein Körper versteift. Wenn ich neben meiner trostlosen Fabrikarbeit etwas hasse, dann sind es "was wäre, wenn"-Fragen. Ich sitze in einem tiefen, bequemen Sessel in einer zunehmend unbequemen Situation. Erst jetzt wird mir klar, dass diese Sessel nicht nur für den Komfort der Gäste gedacht sind. Es ist nicht einfach, sich in ihnen aufzurichten, geschweige denn, überraschend aufzustehen. Sie sind ein Schutz vor unerwarteten, schnellen Bewegungen. Ausserdem ist man auf diese Weise nicht auf Augenhöhe mit Marcupopoulos, dem Herr dieser prunkvollen vier Wände im 39. Stockwerk des Mandori-Buildings. Man muss zu ihm hochschauen. Was er merklich geniesst.
 
"Was wäre, wenn ich dir vorschlagen würde, alle deine Probleme auf einen Schlag..." - er zieht genüsslich an seiner Havanna, bevor er dichte Rauchschwaden in die ohnehin schon stickige Luft pustet - "aus der Welt zu schaffen." Seine tiefe Stimme dröhnt durch das Zimmer. "Wünschtest du dir das, Danny?" Mein Herz wird schwer und gleichzeitig fängt es an, schneller zu schlagen. Wenn es ein "was wäre, wenn" gibt, müsste es demnach nicht auch ein "was wäre, wenn nicht" geben? 
 
Nein, nicht in meinem Fall. Für mich gibt es nur einen Weg. Der andere wäre auf jeden Fall eine Sackgasse. Mit apruptem Ende. Wie konnte ich nur so dämlich sein? Ich verfluche mich innerlich. Nicht zum ersten Mal, seit ich den Auftrag angenommen habe. Er versprach gutes Geld und Unabhängikeit. Freiheit. Wer wünscht sich das nicht? Freiheit. Wie vermessen das klingt. Verdammt. Die Alternative wäre die monotone Arbeit am Förderband gewesen. Tag für Tag. Jahr für Jahr. Und ich musste sogar froh sein, um diesen Job. Andere waren nicht so einfach zu finden. Verständlich, dass ich nicht erst sehr lange darüber nachdenken musste, als mich ein Kumpel auf einen "kleinen Nebenverdienst", wie er das nannte, ansprach. Hätte ich mir doch Zeit genommen für ein, zwei weitere Gedanken. Hätte ich doch... Aber nein, in den "Hätte ich doch"s und "Was wäre, wenn"s will ich mich nicht wieder verlieren.
 
"Wie kann ich meinen Fehler wieder gut machen?" Ich will kräftig und selbstbewusst wirken, aber schaffe es nicht. Stattdessen klingen die Worte gebrochen und kläglich in meinen Ohren. Ich fürchte, meine zwischenzeitliche Wut hat der Angst wieder Platz gemacht. Ich fühle mich ausgetrocknet.
 
Popou, wie Marcupopoulos fast liebevoll von seinen Untergebenen genannt wird, steht langsam auf und dreht mir den Rücken zu, um das massive Gemälde zu betrachten, das hinter ihm an der Wand hängt. Es ist ein Familien-Portrait, das aussergewöhnlich realitätsnah gemalt wurde. Nur beim näheren Hinschauen, erkennt man, dass es sich dabei nicht um ein Foto handelt. Ich glaube, es hat mich schon die ganze Zeit, in der ich hier sitze, unbewusst verstört.
"Verfolgt" - dieser Begriff scheint mir besser zu passen. Auf dem Bild sind seine Frau, seine zwei Töchter und Marcupopoulos selbst zu sehen. Es ist, als zöge sich ein dunkler Schleier über mich, als ich das Gemälde genauer studiere. Alle drei, seine Frau, wie auch die Mädchen sind in lange, eintönige Röcke gekleidet. Im Gegensatz zu ihren Töchtern - sie mögen vielleicht zwölf und fünfzehn Jahre alt sein - trägt die Frau die zu Zöpfen geflechteten Haare aufgesteckt. Alle drei sind sehr hübsch. Nein, nicht hübsch. Sie sind schön. Sie sind mit jener reinen Schönheit gesegnet, die einen Betrachter sprachlos machen kann. Sprachlos und einsam.
Aber nicht das beunruhigt mich. Es sind ihre leeren Blicke. Die drei Frauen starren genau in die Kamera, aber irgendwie auch nicht. Sie starren aus dem Bild heraus, das ist es. Sie starren aus dem Bild heraus, an mir vorbei, in die Ewigkeit. Nur der grosse Popou lacht sorgenfrei ins Objektiv, eine dicke Zigarre im Mundwinkel. Eine kleine Weile verstreicht, in der wir uns beide nicht aus den Fesseln dieses enormen Portraits lösen können.
 
"Wie ich sie liebe!" Sein donnerndes Lachen holt mich aus meinen Gedanken in den Raum zurück. Der schwere Nebel lockert sich und löst sich auf. Popou geht langsam um seinen viel zu grossen Schreibtisch herum und kommt auf mich zu. Dabei schaut er mir genau in die Augen. Nur mit Mühe gelingt es mir, seinem Blick standzuhalten. "Danny. Dan, sei ganz unbesorgt. Ich bin sicher, bereits eine Lösung gefunden zu haben. Ich meine, du konntest ja nicht wissen, dass diese Dreckschweine dich übers Ohr hauen würden. Du bist ja kein Profi in diesem Geschäft, sonst hättest du bestimmt sofort erkannt, dass sie dir Blüten andrehten. Und ich glaube dir, wenn du sagst, das die Blüten von ihnen kamen. Wie gesagt, du bist doch kein Profi und würdest das Geld kaum selber gegen Blüten tauschen. Oder, Danny?"
Trotz des väterlichen Klangs seiner Stimme verspanne ich mich noch mehr. "Natürlich nicht, Herr Marcupopoulos. Ich wüsste gar nicht wie," stottere ich. "Sag doch Popou zu mir. Ich nenne dich doch auch beim Vornamen, nicht wahr, Danny?" Ich verdammtes Weichei, denke ich und sage: "In Ordnung, Popou." Ach Scheisse, wie ich mich selber dafür verabscheue , dass ich dermassen eingeschüchtert klinge. Wie ein kleiner getretener Hund. 
"Gut, gut, Danny. Hör zu. Die Ware ist weg. Vielleicht kann ich sie wieder beschaffen, aber sehr wahrscheinlich ist sie weg. Die Blüten, die sind nichts wert. Somit schuldest du, Danny, mir einen ganzen Haufen Geld. Aber du kannst nicht bezahlen." Ich bemerke, dass sich meine Finger im Polster der Sessellehnen verkrampft haben, während Popou gemächlich um mich herumspaziert. Ich versuche, mich etwas zu entspannen, löse meine Hände und lege sie auf meinen Schoss.
"Ich glaube dir auch, dass du mit deinem mikrigen Arbeiterlohn niemals soviel Geld aufbringen könntest", fährt er fort. "Nun, mit Verlusten im Geschäft muss man rechnen. Aber einfach so kann ich die Angelegenheit nicht vom Tisch wischen, du verstehst, Danny?"
Er bleibt vor mir stehen und schaut mich ernst von oben herab an. Dann ändert sich seine Miene und er beginnt zu grinsen. "Selbstverständlich verstehst du das. Und deshalb will ich dir eine Wette vorschlagen. Wettest du, Danny?" Ich weiss, dass er die Absicht hat, mich nervös zu machen. Das Dumme daran ist nur, dass er so mühelos Erfolg hat. Ich pokere tatsächlich gerne im kleinen Rahmen mir bekannter Leute. Mit stets dem selben Resultat. Anfangs gewinne ich, aber am Ende habe ich meist weniger im Sack als zuvor. Und mit diesen Voraussetzungen habe ich bestimmt nicht vor, gegen den Boss einer Untergrund-Organisation zu wetten.
"Um ehrlich zu sein...", beginne ich, um mein Unglück abzuwenden, werde aber unterbrochen. "Natürlich wettest du nicht, nicht wahr, Danny? Nicht gegen mich. Aber ich sage dir etwas: Ich bin ein ehrlicher Mann." Er muss eine kleine Regung in meinem Gesicht wahrgenommen haben, denn er fügt hinzu: "Na gut, das Gesetz und ich, wir mögen uns nicht so sehr und es braucht hin und wieder die eine oder andere - nun, sagen wir Überredungskunst, um es etwas zu biegen. Aber dennoch bin ich ein ehrlicher Mann. Wenn es um eine Wette geht, betrüge ich nie. Habe ich nie, werde ich nie. Da kannst du mich beim Wort nehmen." Er hat sich wieder von mir weggedreht, als er noch ganz beiläufig, aber unmissverständlich klarstellt: "Ausserdem hast du keine andere Wahl."
 
"Steh auf, Danny", befiehlt er,"steh auf und komm zu mir, mein Junge." Ich stämme mich aus dem Sessel und trete zu ihm ans Balkonfenster. "Ich glaube, ein bisschen frische Luft wird uns beiden gut tun." Er öffnet die Glastür und hält sie mir auf. "Nach dir." Wir schreiten über die enorm grosse Terasse. Schliesslich gelangen wir zum Balkongeländer und ich spüre, wie sich mein Körper wieder verspannt. Aber ich gebe mir Mühe, räuspere die Kröte aus meinem Hals und lobe die Aussicht, die man von hier oben geniessen kann. "Ja, von hier oben sieht man, wie gewaltig die Stadt in Wirklichkeit ist. Sie reicht bis zum Horizont und noch darüber hinaus."
"Und dadrüben", er zeigt hinüber zum Hafen, "kann man die schönsten Sonnenuntergänge bewundern. Genau über dem See. Man will schliesslich was haben, fürs Geld, nicht wahr, Danny. Warte hier."
Er überquert den weitläufigen Balkon und geht zu einer Minibar. Obwohl Minibar eine etwas untertriebene Beschreibung für den riesigen Kühler ist, den er öffnet. Er giesst etwas aus einer Flasche in zwei Gläser und kehrt damit zu mir zurück. "Hier, trink. Der lag zwanzig Jahre im Fass, geniesse ihn. Und keine Widerrede. Du wirst diesen Drink gebrauchen."
Ich nehme einen kleinen Schluck und fühle, wie die Wärme meinen Hals hinunterrauscht und sich schliesslich im ganzen Körper ausbreitet. "Schmeckt richtig gut", sage ich und meine es ernst. Er lacht: "Natürlich. Meinen Gästen biete ich doch keine Fusel an." Wir schweigen und blicken auf die weite Stadt hinunter. Seltsam, plötzlich fühle ich mich ruhig. Mein Kopf ist leer. Keine Gedanken wirren herum. Ich höre den Wind rauschen und weit unten den Verkehr hupen. Ich drinke noch einen weiteren Schluck und nehme meinen Mut zusammen: "Nun, Popou, worum handelt es sich bei dieser Wette?"
"Mmh, die Wette. Das ist ganz einfach." Er schaut mich an, lächelt, trinkt. "Du steigst über das Geländer und stellst dich hier auf den Mauervorsprung. Dieses Mäuerchen geht rund um das Gebäude herum. Du wirst schon sehen. Hier oben mag es ja ziemlich winzig erscheinen, aber es ist bestimmt 25, wenn nicht sogar 30 Zentimeter breit. Kein Problem also für dich, um darauf einmal das Gebäude zu umrunden, meinst du nicht, Danny? Denn genau das musst du tun, um die Wette zu gewinnen."
Mir stockt das Herz. Das kann doch nicht sein ernst sein. "Das kann doch nicht Ihr ernst sein", stosse ich hervor. Wir befinden uns im 39. Stockwerk. Es windet hier oben bedenklich. Ich schaue über das Geländer, auf den schmalen Vorsprung, dann darüber hinaus, auf die Strassen und die ameisengrossen Gestalten, die sich darauf bewegen. Mir schwindelt.
"Oh doch, es war mir noch nichts so ernst",  sagt er in theatralischem Ton. "Das ist doch keine Herausforderung für dich, Danny." Als ob er tagtäglich darauf spazieren ginge. "Herr Marcupopoulos, ich bin sicher, ich finde einen Weg, wie ich ihnen das Geld..." Aber er geht überhaupt nicht auf mich ein. "Du wirst es tun, Danny. Und weisst du was? Wenn du es schaffst - falls du es schaffen solltest, behälst du nicht nur dein Leben. Nein, du sollst auch deinen versprochenen Lohn erhalten. 50'000 bar auf die Hand. Als kleinen Ansporn, sozusagen.
Nun, Danny, was hälst du davon?" Ich schweige. Und stehe da. Für einen Moment kann ich keinen klaren Gedanken fassen. Ich blicke erneut in die Tiefe. Der Wind scheint an Kraft zuzunehmen. Er will mir etwas mitteilen. Und zwar, dass ich nicht lebendig an ihm vorbei kommen werde.
Aber es hilft alles nichts. Es ist Zeit eine Entscheidung zu treffen. Wenn ich es tue, kann ich alles gewinnen. Oder abstürzen. Wenn nicht, ja dann... Ich fasse das Geländer mit beiden Händen und klettere behutsam auf die andere Seite. Dann stehe ich auf dem Mauervorsprung, während der Wind um meine Ohren bläst. "Also gut, ich nehme Sie beim Wort."
"Keine Angst, Danny." Popou lacht zu mir herüber. "Eine Wette ist eine Wette. Der Eine gewinnt, der Andere verliert." Er legt seine Pranke auf meine Schulter. "Und bevor ichs vergesse. Wenn du gewinnst, sollst du auch deine kleine Blonde wieder haben, Sara heisst sie, wenn ich mich nicht täusche."
Es dauert eine Weile, bis der Sinn seiner Worte bis in mein Inneres vordringen. Dann überkommt mich eine Wut, wie ich sie noch nie vorher gespürt habe. Eine Wut über diese ganze verdammte Angelegenheit, über Marcupopoulos und sein Gefolge und nicht zuletzt über mich und meine klägliche Naivität.
Wie konnte ich glauben, Sara erfolgreich aus dem Spiel gehalten zu haben, sie vor den Fingern dieses ekligen Fettsacks schützen zu können. "Du elendes Schwein!" Ich will ihn am Arm packen, aber er hat ihn bereits zurückgezogen und einen Schritt rückwärts gemacht. "Na, na, na, Danny", sagt er mit gespielt enttäuschter Stimme, "du solltest dich besser auf deine Aufgabe konzentrieren. Denn wenn sie dir nicht gelingt, wird deine Freundin deinem Schicksal folgen. Hast du mich verstanden?"
Mir wird übel. Ich schaue an mir hinunter, meine Fersen hangen lose über dem Abgrund, nur der vordere Teil meiner Füsse haben auf dem Vorsprung Platz. Als ich nach einem langen Moment wieder hochschaue, ist Marcupopoulos in seiner Suite verschwunden. Dennoch weiss ich, dass er mich beobachtet. Nicht nur mein Leben steht auf dem Spiel - nun muss ich auch um Saras bangen.
 
Ich atme ein paar Mal tief durch. Dann begebe ich mich ans Ende des Geländers. Dorthin, wo die Fassade beginnt. Und sehe meine Vermutung bestätigt. Keine Ausbuchtungen, keine Kanten, nur flacher Beton. Ich schaue nochmals zurück auf den leeren Balkon. Aber da ist keiner, der mir zuruft: "Das war doch nur ein dummer Scherz, Danny." Niemand, der mich begnadigt.
Ich schiebe meinen rechten Fuss ein Stück der Kante entlang und ziehe meinen linken nach. Ab jetzt gilt es ernst. Vorsichtig löse ich meine Hand vom Geländer und drücke mich flach an die Wand, meinen Blick nach rechts gewandt. Ich atme tief ein und lasse die Luft aus meinem Mund entweichen. Dann schiebe ich meine Füsse weiter den Vorsprung entlang. Sehr bedacht, aufs Äusserste konzentriert. Schritt für Schritt. Schritt für Schritt. Immer weiter. Meine Augen auf den Rand des Gebäudes fixiert. Dahin, wo die weisse Mauer übergeht in das Blau des Himmels.
Ich komme langsam aber beständig voran. Ich habe neuen Mut gefasst. Es ist wirklich gar nicht so schwierig, wie befürchtet. Aufmerksam einen Schritt nach dem andern machen und vor allem: Nicht nach unten schauen.
Von weitem dringt Motorenlärm zu mir. Nach kurzer Zeit erreiche ich mein erstes Ziel. Vorsichtig fasst meine Hand um die Ecke. Ich stelle mein rechtes Bein auf den Vorsprung auf der anderen Seite, schiebe bedacht meinen Körper um die scharfe Kante, meine Arme an die Mauern gepresst - und bin drüben. Kein Problem, weiter gehts.
Da reisst mich eine plötzliche Windböe aus meiner Unbeschwertheit. Ich taumle. Komme ein wenig in Rücklage und -
Und knalle zurück an die Wand. Mein Herz rast. Der Wind heult und pfeift, als hätte er an eben dieser Stelle auf mich gewartet. Er reisst an meiner Jacke, bläst mir ins Gesicht, will mich zurückdrängen. Warum ich nicht in diesem Moment in die Ewigkeit falle, weiss ich nicht. Will es nicht wissen. Ich schmiege mich so gut es geht an den kalten Stein. Erst jetzt merke ich, dass ich schlottere. Zittere, als wäre ich gerade eben aus einem Alptraum erwacht.
Ich will hier runter. Und zwar am liebsten auf dem selben Weg, den ich gekommen bin. Augenblicklich wird mir bewusst: Ich lebe noch. Und ich allein entscheide, was mit meinem Leben geschieht. Es hängt alles von mir ab. Ich schreie es laut heraus: "So einfach wirst du mich nicht los, Popou!"
 
Gegen den Wind kämpfe ich mich weiter voran. Jetzt noch vorsichtiger, noch langsamer. Wie ein unsichtbarer Keil versucht sich der Wind zwischen mich und den Wolkenkratzer zu treiben. Noch gelingt es ihm nicht, aber ich muss aufpassen.
Dies ist die schmale Seite des Gebäudes. Wenn ich zur Rückseite gelange, lässt der Wind vielleicht nach. Mit diesem Gedanken im Kopf arbeite ich mich beharrlich vor. Ich kann das, sage ich mir immer wieder, ich kann das und werde es schaffen.
Dann endlich erreiche ich die nächste Ecke, klettere um sie herum. Meine Hoffnung bewahrheitet sich. Die Böe ist, so plötzlich wie sie gekommen ist, zu einer ungefährlichen Brise abgeflaut.
Ich beschliesse, eine kurze Pause einzulegen. Ich bleibe stehen und schliesse die Augen. Keine Ahnung, wie lange ich schon an dieser Mauer hänge. Minuten oder schon Stunden. Die Welt scheint zeitlos hier oben. Immerhin habe ich fast die Hälfte hinter mir, dann meistere ich auch die andere Hälfte noch. Bald, heute abend schon, werde ich Sara wieder in den Armen halten. Und ausserdem ein reicher Mann sein. Ich werde meinen Job gleich morgen hinschmeissen und uns den nächsten Flug auf eine weit entfernte Insel buchen. Dann wird all das hier vergessen sein. Als wäre es nie geschehen.
 
All das hier. Ich wecke mich aus meinem Tagtraum. Soweit bin ich noch nicht. Zuerst muss ich diese Aufgabe bestehen. "Also los, weiter."
Es tut gut, mir selber Mut zuzusprechen. Stück für Stück schiebe ich mich weiter der langen Wand entlang.
Doch dann ändert sich unerwartet die Oberfläche, an die ich mich angeschmiegt halte. Ich bin an einer enormen Fensterfront angelangt. Es ist eine einzelne Scheibe, die auf der Höhe des Mauervorsprungs beginnt und geschätzte sieben oder acht Meter über mir endet. Wie breit sie ist kann ich aus meiner Sicht noch nicht sagen. Ich erkenne einen riesigen Raum, ein paar opulente Schränke und andere Möbel, ein Bett, dessen Beschreibung King-Size eine Beleidigung wäre, und einen gewaltigen Kronleuchter. Offensichtlich Popous Schlafzimmer. Es ist menschenleer.
Ich versuche mich möglichst schnell an die Veränderung zu gewöhnen. Es ist nicht ganz einfach, das Glas reibt stärker an meinen Kleidern. Ich fühle, wie mich der neue Widerstand meiner Kräfte beraubt, noch langsamer vorankommen lässt.
Auf einmal geht im Zimmer das Licht an. Ich erschrecke und verliere beinahe den Halt. "Scheisse",stosse ich krächzend hervor. Dann erkenne ich ihn. Marcopopoulos steht in der Mitte des Raums und starrt mich an. Arme hinter dem Rücken verschränkt, kein Anzeichen seines üblichen Grinsens.
Mich beschleicht ein seltsames, ungutes Gefühl. Was hat der Typ vor? Ich kann bloss zurück starren. Doch er steht nur da ohne sich zu rühren.
Langsam verliere ich die Geduld an diesem Spiel. Er will mich ablenken, das ist alles. Einen Fehlschritt provozieren. Aber diesen Gefallen tue ich ihm nicht. Nein, so einfach ergebe ich mich dem Schicksal nicht. Ich muss mich konzentrieren. Aber es fällt mir schwer, sein Blick lastet erdrückend auf mir.
Gerade als ich mich überwinde, einen weiteren Schritt zu machen, bemerke ich seine Bewegung. Wie in Zeitlupe kommt seine Hand hinter seinem Rücken zum Vorschein. Mein Atem stockt. Darin hält er eine Pistole, die er langsam auf meinen Kopf richtet.
Er sagt etwas. Bewusst übertrieben bewegen sich seine Lippen, denn hinter der dicken Scheibe könnte ich ihn ohnehin nicht hören. Und ich verstehe die zwei Worte genau: "DU - VERLIERST." Dann drückt er ab.
 
Ich vernehme einen dumpfen Knall. Wer behauptet, kurz vor dem Ende sähe man sein ganzes Leben nochmal vor sich ablaufen, liegt falsch. Ohne Zweifel trifft das auf mich nicht zu. Mein Bewusstsein: Leer. Blank. Weiss wie Schnee.
Ich versuche noch auszuweichen. Ein aussichtsloses Unterfangen. Ich kann nirgends hin, falle beinahe rückwärts, drücke mich mit zugepressten Augen ans Fenster, so fest ich kann.
Dann realisiere ich, dass ich nicht getroffen bin. Keine Patrone, die mir das Gesicht zerfetzt und dem Alptraum ein Ende gemacht hätte. Als ich meine Augen öffne, sehe ich Popou lachen. Gröhlen, um es genauer zu definieren. Mein Herz hämmert. Unsinnigerweise denke ich an ein Kaninchen, dessen Hinterbein unkontrolliert auf den Boden schlägt. "Beruhige dich", flüstere ich mir zu. Ich nehme ein Paar tiefe Atemzüge.
Ab jetzt habe ich nur noch eines im Kopf. Ich will diese Wette gewinnen. Nicht, um Saras Leben zu retten, schon gar nicht wegen dem Geld. Nein. Ich will ihn verlieren sehen. Seine Enttäuschung erleben, wenn ich wieder übers Geländer steige.
Während ich mich aufmache, um die zweite Hälfte zu bestreiten, hat sich Popou einigermassen erholt und wischt sich eine Träne ab.
Ich achte nicht mehr auf ihn. Der Wind hat zu einem angenehmen Lüftchen nachgelassen. Es steht in meiner Gunst. Ausserdem hat mich Popous Aktion eher beflügelt als abgeschreckt. Bestimmt nicht, was er im Sinn hatte.
 
Von nun an komme ich zügig voran. Getrieben von einem unbändigen Siegeswillen erreiche ich die dritte Ecke, nur wenig später, mit etwas Rückenwind, die letzte. Ich schaue zum Balkongeländer, das ein wenig vorsteht. So gut wie geschafft. Schritt für Schritt. Bis ich endlich ankomme. Wie gut sich Metall anfühlen kann. Geradezu euphorisch schwinge ich mich über das Geländer in Sicherheit.
Wo mich Popou in Empfang nimmt. "Na, wie war dein Ausflug?"  will er wissen. Er klingt verärgert und schlagartig wird mir bewusst, dass ich nur scheinbar sicher bin. Ich befinde mich immer noch in seiner Gewalt und durch sein Wohlwollen wird sich nun entscheiden, ob alle meine Anstrengungen umsonst waren.
Plötzlich lösen sich seine Gesichtszüge zu einem Lächeln. "Ich hätte nicht gedacht, dich wieder zu sehen. Aber du scheinst einen starken Willen zu haben, Danny. Lobenswert. Ach, tut mir übrigens Leid wegen der Platzpatrone, aber ich konnte es mir einfach nicht verkneifen."
Sorgen um mein Leben verfliegen. Dafür fühle ich in mir Wut aufsteigen. "Ich habe Ihr Spiel mitgespielt und bitte nun um die Einlösung des Gewinns. Ich hoffe, Sie halten Ihr Wort."
"Aber selbstverständlich, Danny. Ich werde dich nicht betrügen, das habe ich dir doch versprochen. Dann will ich auch Wort halten. Die 50'000 liegen da im Koffer auf dem Tisch bereit. Die Tür steht dir offen, du darfst gehen."
Ich bleibe unruhig. Wo steckt bloss der Haken? "Und...", ich bringe die Frage kaum heraus, "und wo ist Sara?"
"Oh ja, Sara", sagt er ganz beiläufig, "sie wartet drinnen auf dich."
Ich laufe los. Bereits durchs Balkonfenster erkenne ich eine Gestalt auf dem Sofa. Mit hängendem Kopf. Ich stürze hinein und auf sie zu. "Oh nein, Sara. Was haben sie dir getan? Sara!"  Verzweiflung kommt über mich. Leere, Einsamkeit. Sara wurde auf einer Plastikfolie aufs Sofa gebettet. Damit es sich nicht mit ihrem Blut vollsaugt. Ihr Körper ist noch warm. Eine wage Hoffnung keimt in mir auf. Ich betaste ihren Hals auf der Suche nach einem Lebenszeichen. Aber da ist nichts mehr.
Nun habe ich Gewissheit. Er hat sie mir genommen. Unwiderbringlich. Ich knie vor ihr, halte ihre abkaltenden Hände. Ich kann nicht anders, schluchze wie ein kleines Kind. Die Schwermut, die mich gepackt hält, droht mich fortzuschwemmen.
 
"Das reicht jetzt, Danny", erklingt Marcopopoulos' Stimme hinter mir. "Wenn du sie noch willst, kannst du sie mitnehmen. Anderfalls nimm dein Geld und verschwinde. Tony, begleite ihn zur Tür."
Eine Pranke packt mich am Arm und reisst mich auf die Beine. Einer seiner Leibwächter, den ich bis anhin nicht bemerkt habe. Er stösst mir einen Koffer in den Bauch und schubst mich zur Tür.
Plötzlich geht alles sehr schnell. Anstatt die Tür zu öffnen, fahre ich blitzschnell herum und schwinge den Koffer Richtung Gesicht des Gorillas. Nicht nur mich überrasche ich mit diesem Reflex. Völlig unerwartet und punktgenau trifft der Koffer auf seinem Kinn auf. Zähne und grüne Scheine fliegen durcheinander. Mit lautem Gepolter schlägt Tony auf. Sofort bin ich über ihm, greife in seine Jacke und ziehe seine Pistole heraus.
Auch Popou scheint nicht mit einer Gegenwehr meinerseits gerechnet zu haben. Verblüfft starrt er auf die Waffe in meiner Hand. Dann wendet er seinen Blick mir zu. "Er-, erschiess mich nicht, Danny", fängt er zu stottern an. "Bitte, lass mich leben. Ich gebe dir alles, was du..."
"Alles was ich will?" unterbreche ich ihn. "Das geht ja wohl nicht mehr, mit ihrem Blut an deinen Händen." Ich höre, wie meine Stimme zittert. Aber es ist mir egal. Ich hebe die Pistole, ziele zwischen seine Augen.
Doch ich zögere. Ich habe noch nie jemanden mit einer Waffe bedroht. Geschweige denn getötet. "Bitte, Danny. So war die Wette. Wenn du gewinnst, kriegst du sie wieder. Von ihrem Zustand war nicht die Rede. Ich mag ein schlechter Verlierer sein, aber ich bin kein..." Weiter kommt er nicht. Der Schuss ist ohrenbetäubend.
"Bitte, halte einfach dein Maul", stosse ich mit aufeinander gepresssten Zähen hervor.
Die Kugel ging nahe an seinem Kopf vorbei. Verschwunden in einem Loch im Familien-Portrait. Marcopopoulos' sonst so sonnengebräuntes Gesicht ist aschfahl geworden.
Einer plötzlichen Eingebung folgend sage ich zu ihm: "Und jetzt, Popou, jetzt biete ich dir eine Wette an."