Bogotá - Vilcabamba, März/April 2014

 

Ich habe es schon oft gesagt, und ich sage es immer wieder: Pläne schmieden ist schön, aber Pläne über den Haufen schmeissen ist noch viel schöner!

Wir fahren also nicht, wie erst gedacht, von Bogotá über Putumayo nach Ecuador, sondern nehmen einen Bus Richtung Westen nach Armenien. Mit dem Flugzeug wären die - was 150 km Luftlinie - in weniger als einer halben Stunde zu schaffen. Die Strasse jedoch führt zuerst nach Ibague ins Tal hinunter, von wo sie sich auf der anderen Seite in Haarnadeln wieder hinauf, hinauf und weiter hinauf durch saftiggrüne Hügel bis in die Eje Cafetera, Kolumbiens Kaffeezone, schlängelt. Auf dem Weg sehen wir waghalsige, sich im Bau befindende Brücken- und Tunnelkonstruktionen, die die Strecke in naher Zukunft verkürzen sollen. Heute benötigen wir jedoch satte neun Stunden, um die Reise zu bewältigen.

Armenien ist eine Kopie einer der vielen mittelgrossen Städte (bedeutet: um die 400'000 Einwohner), die es auf diesem Kontinenten gibt. Für uns also ziemlich uninteressant.

Wir reisen weiter in die Nähe des Dorfes Filandia, eine halbe Stunde von Armenien. Fernando, vom Hotel "El Mirador" in Minca, hat uns die Nummer seines Onkels Álvaro gegeben, der mit seiner Frau Olguita ein Häuschen auf dem Land gebaut hat.

Gut, ein Häuschen ist wohl ein wenig untertrieben. Das um die sechzig Jahre junge Pärchen hat sich mit dieser grossräumigen Villa mit wunderbarer Sicht auf das ganze Tal einen Traum verwirklicht. 

Wir dürfen ein wenig daran Teil haben und mieten uns für drei Tage in ihr Gästezimmer ein.

Von hier aus lernen wir die Gegend kennen. Álvaro, der 23 Jahre in Bergen, Norwegen, an der Universität gelehrt hat, setzt sich für Filandias Baum- und Landschaftsschutz ein. Denn zu viele Bäume mussten hier aufgrund der weitverbreiteten Viehwirtschaft schon weichen.

Die Gegend erinnert mich ein wenig an Australiens Süden. Das mag an den Eukalyptusbäumen liegen, aber auch an der weiten, grünen Hügellandschaft. Fehlen noch die in der Abenddämmerung weidenden Kängurus.

 

Ein paar Tage später und einige Dörfer weiter sind wir in Salento. Der touristische Ort lässt uns an die Schweiz denken. Berge, grüne Wiesen, Kühe und Regen. Die Vegetation ist dennoch etwas unterschiedlich. Riesige Farne und Palmen und dann auch die schneebedeckte Spitze des aktiven Vulkans "Ruiz" zeigen, das wir uns noch immer in Kolumbien befinden.

In Gabriels Hostal "Yambolombia" fühlen wir uns beide schnell zu Hause, und eine Woche vergeht wie im Wind.

Gabriel, der von hier stammt, hat vor ein paar Jahren dieses schöne Land günstig erstanden, um darauf eine organische Finca mit Hostal zu errichten. Dazu gehören auch Ziegen, Pferde und natürlich Hunde.

Beinahe alle Besucher, die nach Salento kommen, machen einen Wanderung durch das nahegelegene "Valle de Cocora", wo die kolumbianische Wachspalme die Landschaft beherrscht. Einmal mehr überzeugt uns Kolumbien mit seiner Vielfalt und natürlichen Schönheit. Klar, sind die Kolumbianer ein stolzes Volk. Nicht wenige haben uns bereits ihre offene und ehrliche Freude darüber, hier geboren zu sein, kundgetan. Allen voran, Mauricio! Verständen wir mehr von Musik und den unzähligen Stilrichtungen, die Kolumbien hervorgebracht hat, wir könnten uns noch viel mehr mit ihnen über ihr Land freuen.

Im "Yambolombia" tauschen wir uns mit anderen Travellern über Reisepläne und -erlebnisse aus und veranstalten zweimal einen Pizza- und Brotplausch. Denn es kreuzt kein Lehmofen unseren Weg und kommt unbenutzt davon! Schon gar nicht ein so schöner wie Gabriel einen hat!

Bleibt noch zu erwähnen, dass es wohl noch auf keiner meiner Reisen so viel geregnet hat, wie in dieser Region. Schliesslich brechen wir auch von Salento auf, aber nicht ohne zu versprechen, trotz Schlamm und Nässe wieder zu kommen.

Zuerst werweissen wir noch, ob wir vor Ecuador noch irgendwelche Zwischenstoppe einlegen wollen, entschliessen uns dann doch für den (mehr oder weniger) direkten Weg.

An einem schönen Morgen um halb elf brechen wir vom "Yambolombia" auf:

 

Ins Dorf auf teilweise knöcheltiefer Schlammstrasse: 1/2 Stunde zu Fuss

Salento - Armenien: 1 Stunde in der Buseta

Armenien - Cali: 3 Stunden im Kleinbus

Cali - Ipiales: 13 Stunden im Nachtbus

Ipiales - Grenze: 10 Minuten im Minivan

Unkomplizierte Grenzabfertigung um 6 Uhr morgens

Yippie, Ecuador!

Grenze - Tulcan: 1/2 Stunde im Minivan (auf der Fahrt kriegt der ältere Fahrer eine Busse von einem ungnädigen Polizisten wegen einer Bagatelle)

Tulcan - Quito: 5 Stunden im Bus (Unterbruch der Reise in der Grossstadt? Nein, weiter!)

Quito (Nordterminal) - Quito (Hauptterminal im Süden der Stadt): 1 Stunde im Bus

Quito - Baños: 4 Stunden im Bus

Ankunft Baños ca. 17 Uhr, kurzer Marsch zum Hotel, Dusche, Bett.

 

Einschub: Die Bagatelle

 

Morgen früh. Seraina und ich haben gerade die Grenze passiert und warten in einem kleinen Minivan auf zwei weitere Passagiere, um die restlichen Sitzplätze zu füllen. Ich komme ins Gespräch mit dem Kolumbianer, den Peruanerinnen und dem Venezolaner, der bereits seit vier Tagen von Caracas kommend in verschiedenen Bussen unterwegs ist.

Das übliche: Wir sind aus der Schweiz, sprechen schweizerdeutsch, ja, eine Art deutschen Dialekt, spanisch haben wir auf der Reise gelernt...

Mir fallen gewisse Fluchwörter auf, die leichthin benutzt werden, das Kind im Bus vernimmt sie kichernd.

Endlich steigen noch zwei Nonnen zu, es kann losgehen.

Wir fahren. Die Gegend ist trüb, was nicht bloss am Wetter liegt. Nach einer Weile kommen wir in der Stadt Tulcan an, dem ersten Ort nach der Grenze. Er ist ebenso trüb wie das Land davor.

Wir passieren den Stadtpark, darin steht ein einzelnes Zelt. Wer zeltet denn hier?, frage ich mich noch; dann ist die Szene auch schon vorbei.

Wir durchqueren die Strassen. Vor uns eine Karawane von Polizisten auf Motorrädern. Nichts Besonderes. Eine Patroullie. Sie sind langsamer unterwegs als wir; wir überholen sie.

Die Nonnen sitzen vorne und wollen jetzt aussteigen. Der Fahrer hält. Die eine Nonne öffnet die Tür, während die andere ihre Geldbörse hervorkramt.

Bevor ich reagieren kann, passiert es. Keine Zeit, der Nonne zu sagen, die Türe zu schliessen, denn nicht wie sie, erinnere ich mich an die soeben überholten Motorradpolizisten. Da kommt der eine schon. Rechts. Kann gerade noch so bremsen, fährt beinahe auf den Bordstein, damit er nicht direkt in unsere Beifahrertür knallt.

Er flucht. Die erschrockene Nonne schliesst die Tür sofort wieder. Der sich entschuldigende Fahrer fährt ein paar Schritte weiter an die Ecke, wo es offiziell erlaubt ist, Passagiere aussteigen zu lassen. Die Nonne entschuldigt sich ebenfalls, sie bezahlen und machen sich davon.

Der Fahrer ahnt richtig. Obwohl er schnell den Gang wieder einlegt, ist es zu spät. Es klopft an seine Scheibe. Der verärgerte Polizist diskutiert zunächst mit ihm, denn unser Fahrer hätte beinahe einen Unfall verursacht. Der hat gerade noch mühsam Fahrgäste zusammensuchen müssen, um vielleicht knappe zehn Dollar an der Fahrt zu verdienen. Er ist untröstlich und bettelt: „Bitte, bitte, verzeihen Sie mir meinen Fehler dieses eine Mal. Bitte, bitte.“

Es hilft alles nichts. Wir müssen warten bis das Formular ausgefüllt ist und unser unglücklicher Chauffeur seine Busse kassiert hat.

Da frage ich mich: Müssen Polizisten nicht wie alle andern links überholen, damit eben solche Sachen nicht geschehen? Eine Uniform gibt Macht. Keine Diskussion.

Und was ist mit der Nonne? Auch ziemlich dreist, sich nach ihrem Schnitzer so aus dem Staub zu machen.

Der Fahrer hat Pech gehabt. Endlich treffen wir am Busterminal ein. Wir müssen uns um unsere Weiterreise bemühen und der Vorfall ist bald vergessen.

 

Gleich am nächsten Morgen nach unserer erschöpften Ankunft in Baños, stärken wir uns mit einem stattlichen Frühstück am Markt und wollen nun ausprobieren, weswegen wir hier sind. Denn Baños heisst nicht einfach so Baños. Das Dorf liegt direkt am Hang des Tungurahua, eines über 5000 Meter hohen, aktiven Vulkans, der zwei Wochen nach unserer Abreise aus Baños einmal mehr Schlagzeilen machen sollte. Später, in Canoa, lesen wir, das er Asche und Geröll gespuckt haben soll. Die Wolke habe bis hoch nach Quito gereicht.

Heute aber sehen wir eh nichts davon, denn meist liegt eine dicke, weisse, regnerische Wolkendecke über uns. Das macht im Moment nichts, wir liegen in einem der etwa vier Thermalbäder, die Baños bekannt machen, und lassen unseren Körpern die Entspannung zu kommen, die sie nach einer derart langen Reise verdient haben.

Auch am nächsten Tag ist das Wetter nicht sonderlich besser. Ab und zu guckt die Sonne durch, um ein wenig zu wärmen. Das reicht gerade Mal, um die nähere Umgebung zu erkunden. Jedoch um eine längere Wanderung zu unternehmen, ist es uns zu kalt und nass, obwohl die Gegend geradezu dazu geschaffen wäre.

Stattdessen testen wir eine weitere Thermalquelle aus und liegen im warmen Wasser, während es uns auf die Köpfe nieselt.

Schliesslich wird es uns dann doch zuviel und, obwohl wir gedachten, noch länger auf die Sonne zu warten, reisen vorzeitig ab. Auch angesichts der vielen Touristen, die am Wochenende über das Dorf herfallen. Ergreifend, das Rosita, die Besitzerin des gleichnamigen Hotels, sich für das ungewöhnlich schlechte Wetter entschuldigt. Wir beschwichtigen sie und versprechen auch ihr, eines Tages wiederzukommen.

 

Die Regenzeit ist voll im Gange. Bis hinunter in das vier Stunden entfernte Tena im Osten des Landes bleibt es nass. Tena ist Ausgangsort von Wildwasserfahrten und Touren zu den indigenen Völkern im nahen Dschungel.

Uns, die wir ohnehin nicht sehr tourbegeistert sind, macht die Aussicht auf "Indianer-Gucken" von Indigenen, die sich nach absolvierter Darbietung wieder entschmücken und sich womöglich zurück vor den Fernseher werfen, nicht besonders an. Ich sage nicht, dass alle so sind, aber sicherlich gibt es viele, die lieber auf anstrengende traditionelle Jagdmethoden verzichten und im Laden einkaufen gehen.

So wissen wir zunächst nicht, was wir hier tun wollen, ausser mit Spaziergängen die Stadt kennenzulernen, uns mit anderen Backpackern zu unterhalten und die Küche im Hostal ausgiebig zu nutzen.

Wir fahren weiter ins nicht weit entfernte Misahualli (sprich: Misahuaji, wobei "j" ein kaum hörbares, südamerikanisches "sch" beinhaltet). Das kleine Dorf liegt ganz am Ende der Strasse. Danach kommt nur noch Dschungel. Der Rio Napo fliesst braun und breit daneben vorbei. Weit hinein ins Grün, durch den ganzen Oriente von Ecuador, hinein nach Peru, bis er schliesslich irgendwo nach Iquitos in den mächtigen Amazonas mündet.

Hier finden wir die Stimmung vor, die man nur im Urwald antrifft. Abends schliesst man die Augen und lässt sich den Atem rauben von der Geräuschkulisse: Eine Grille versucht die nächste zu übertönen, Frösche quaken, irgendwo im Gestrüb flattert's, bisweilen ist der Ruf eines Nachtvogels zu vernehmen, immerzu strömt der Fluss ruhig dahin.

Irgendwann in jeder Nacht, wie auch schon in Tena, fängt es an zu giessen. Es ist, als ob sich die Feuchtigkeit den ganzen Tag durch anstaut, wartet und wartet, um den Druck noch ein wenig länger auszuhalten, bis es einfach nicht mehr geht und sich ihrer Natur ergibt. Die Blase entleert sich dann nicht einfach über den Dschungel, sie explodiert wie ein riesiger, über seine Masse mit Wasser gefüllter Ballon. Der Regen knallt auf die Dächer, Bäume und Strassen, dass man meinte, dem Wasserspiegel beim Steigen zu sehen zu können. Schon am nächsten Morgen bricht meist die Sonne wieder durch die weisse Decke.

Eine weitere Attraktion, die Misahualli zu bieten hat, ist die Affenfamilie, die mitten auf dem Dorfplatz lebt. Es ist eine Freude, den Affen beim Spielen und Durch-die-Bäume-Hangeln zuzuschauen. Doch aufgepasst! Sie wissen genau, wo sich Taschen und Hosensäcke befinden. Aber aggressiv, wie ich's andernorts auch schon erlebt habe, sind sie nicht. Ein Kleiner fasst mich am Hosenbein. Ich stecke vorichtshalber meine Hände in die Taschen und sage ihm, dass ich nichts für ihn habe. Wie ein bettelndes Kind will er wissen: „Au? Au?“ „Tut mir leid“, sage ich ruhig, „nichts zu fressen.“ Er lässt mich los und hüpft davon.

 

Als wir einige Tage später in Quito ankommen, haben wir Glück. Noch am Busbahnhof sehen wir die unheilverkündende, schwarze Front auf uns zu kommen. Vielleicht schaffen wir es trocken ins Hotel. Die Hoffnung zerplatzt wie die ersten schweren Tropfen, die aufs Dach unseres Taxis prasseln. Ein Blitz spaltet den dunklen Himmel. Ich zähle mit: Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs... Düster beginnt es zu grollen, lauter und lauter. Der nächste Blitz. Wow! Was für ein Spektakel. Eins, zwei, drei... Der Knall ist beängstigt. Es regnet nicht nur, jetzt fallen kirschgrosse Hagelkörner vom Himmel. Wir verstehen uns kaum noch im Auto, so laut hämmert's aufs Dach.

Jetzt kommt der Donnerknall gleichzeitig mit jedem Blitz. Wir sind mittendrin und froh im trocknen Auto zu sitzen.

Unser Chauffeur zirkelt uns durch wasserüberschwemmte Gassen, um dem Verkehr möglichst zu entgehen. Eine halbe Stunde später lässt es nach. Wir kommen im Hotel an, als es nur noch leicht regnet, froh nochmal davongekommen zu sein.

Quito hat vor allem zwei für Touristen interessante Stadtteile. Die Altstadt ist voll mit kolonialen Kathedralen und Plazas, wo man sich an Wochenenden oft von Live-Musik und Märkten unterhalten lassen kann.

Das Mariscal hingegen ist voller Hostels, Bars und Clubs. Der Teil könnte ebenso gut in Europa oder Asien liegen. Oder eben in Ecuador.

Wir entdecken beide für uns, spazieren durch die alten Gassen der Ciudad Vieja und gönnen uns ein indisches Abendessen im Mariscal.

Der eigentliche Grund, warum wir hier sind, ist Mario, ein alter Kanti-Kollege meinerseits, den wir hier treffen. Er und seine Frau aus Quito leben in der Schweiz, aber sind zurzeit auf Familienbesuch in Ecuador.

So ergreifen wir die Gelegenheit und verbringen einen Tag zusammen mit einem Besuch in einem der vielen Parks in Quito, gutem Essen und ein paar Bierchen in einer Bar.

 

Wie so oft halten Seraina und ich es nicht lange in einer Grossstadt aus. Nach dem wir nun wochenlang Regenwetter über uns ergehen lassen mussten - gut, die letzten beiden Tage in Quito hat die Sonne die Stadt verzaubert - ist es Zeit, für Badehosen, Sand und Hitze.

Der Nachtbus fährt um elf Uhr nachts los. An Schlaf ist kaum zu denken, die kurvige Strecke schüttelt uns hin und her. Und kaum nicken wir doch ein, heisst es: „Canoa! Canoa!“

Was? Schon da? Draussen ist es noch stockdunkel! Gerademal halb Fünf. Puh, was nun?

Wir buckeln unsere Rucksäcke und schleppen uns erstmal an den Strand, wo wir die Wellen zwar hören, aber nicht sehen können.

Um halb sieben beginnt sich das Dorf langsam zu regen. Etwas später stellen wir unser Zelt im Camping Iguana auf. Kris aus Deutschland hat sich hier vor ein paar Jahren ihr kleines Reich geschaffen. Hier wohnen nicht nur Reisende - die meisten aus Argentinien - sondern so einige Hunde, Hundewelpen, Katzen und - eine Möve. Tiki hat sich den einen Flügel gebrochen, so hat sie Kris bei sich aufgenommen.

Canoa ist ein kleines Strand- und Fischerdorf, das seit ein, zwei Jahren aufs Doppelte angewachsen ist. Heute beherrscht eine Strandpromenade voller Bars und Restaurants die Szenerie.

Trotzdem ist es noch ruhig hier. Zumindest durch die Woche öffnen nur wenige. Freitagabend bis Sonntag jedoch wollen alle Business machen, die Bars laufen auf Hochtouren bis tief in die Nacht.

Hier treffen wir auf einige faszinierende Charaktere.

Am ersten Tag lernen wir Waslav kennen, den wir einfach Tschech nennen. Er sei aus der Tschechoslowakei, aber schon über vierzehn Jahren nicht mehr dort gewesen. Ein Vagabund, wie er im Buche steht. Gross, blond, nur noch einzelne Zähne im Mund, spricht fliessend spanisch, jedoch mit einem amüsanten Akzent. Statt auf die zweitletzte bzw. letzte Silbe betont er die Wörter meist auf die zweite. Das klingt ziemlich lustig, ich spreche gerne mit ihm.

Und er hat Geschichten zu erzählen. Kaum einmal mehr als ein paar Dollar in der Tasche reist er schon seit einer halben Ewigkeit durch Südamerika.

Als er zum Beispiel auf dem Amazonas unterwegs war, acht Tage von Iquitos, Peru, bis Manaus, Brasilien, von Manaus eine weitere Woche bis nach Belem an der Atlantikküste Brasiliens, lernte er einen Schifffahrer kennen, der ihm verriet, wie er kostenlos zu Essen und Transportmöglichkeiten käme. Nur den Namen dieser oder jener Schiffgesellschaft nennen, bei welcher er arbeite, und schon werde er herzlichst aufgenommen. So klappte das dann auch.

Hier in Canoa hat er erst kürzlich einen Job gekündigt. Auf einer Baustelle, die, wie Tschech versichert, die Risiken jeglicher Extremsportarten übertrifft, bezahlten sie im $12 pro Tag. Damit kommt er kaum durch, sagt er, da sei ihm seine Gesundheit wichtiger.

So hatte er wohl schon hunderte Jobs. Ob er sich nicht vorstellen könne, irgendwo sesshaft zu werden, will ich wissen. Oh, aber sicher, da gäbe es schon den einen oder anderen Ort, aber das Flüssige fehle. Ob er denn nicht wieder nach Hause kann, wo er vielleicht besser bezahlte Arbeit kriegen könnte? Nein, in der Tschechischen Republik bzw. Slowakei erwarte ihn nichts. Ausserdem könne er sich kein Flugticket leisten. Und sein Leben hier gefällt ihm.

So wirkt er auch. Fröhlich erzählt er von seinen komplizierten Liebeskisten, von Plänen für die Zukunft, von Freunden und Bekannten. Dabei stellt sich heraus, dass wir in Palomino einen gemeinsamen Freund haben.

Am selben Tag stellt Tschech uns Damian vor. Damian stammt von Canoa, betreibt eine kleine Bar an der Promenade und macht die besten Fruchtsäfte, Caipirinhas und Ceviches (Meeresfrüchtesalat).

Tschech hilft Damian ein wenig aus, nicht für Geld, das fehlt auch Damian. Stattdessen will er Erfahrungen sammeln.

Selten sieht man Damian ohne Smile im Gesicht. „Damian, arbeitest wieder in der Hängematte, was?“, ruft ihm ein auf dem Velo vorbeifahrender Nachbar zu.

„Das Leben ist hart“, gibt Damian zu. Die meiste Zeit läuft nichts in seiner Bude. Er, wie viele hier, lebt von den Wochenenden und Feiertagen. Dazu erzählt er uns, wie er erst kürzlich ausgeraubt wurde. Er habe an jenem Abend seine Bretterbude fahrlässig verschlossen. Und solche Missgeschicke werden hier gnadenlos ausgenutzt. Am nächsten Morgen war nicht nur die Kasse leer, sondern auch seine Schnapsbar. Und was macht Damian? Er lacht darüber. Viel habe er ja ohnehin nicht gehabt. Im Moment müsse er einfach hier in der Bar übernachten, da er kein Geld habe.

Wir werden schnell gute Freund. Er überlässt uns gerne einen kleinen Tisch, damit wir unsere Artesania ausstellen können. Das machen wir schliesslich auch fast jeden Tag, mit mehr oder weniger guten Tagesergebnissen, von denen wir dann auch gerne einen Teil in Damians Geschäft investieren.

An einem anderen Tag lerne ich Ismael, einen jungen Backpacker aus Maryland, USA, kennen. Er ist ein paar Monate alleine in Südamerika unterwegs. Ein amüsanter Kerl, der unentwegt Fragen stellt, die einen nerven könnten, wenn man es zulässt. Ein Beispiel: Wie kommst du mit all diesen fremden Leuten zurecht? Was für eine Frage, wenn man auf Reisen ist!

Er erzählt von einer Finca in Kolumbien, auf der er arbeitete. „Abends sangen sie dann immer und tanzten immer so umher. Das gefiel mir überhaupt nicht. Ich verzog mich dann immer in meine Hängematte, um zu lesen.“

„Ja, meistens triffts du ja gute Leute und wenn dir mal jemand nicht passt, gehst du ihm oder ihr besser aus dem Weg“, gebe ich ihm einen klugen Ratschlag. Vielleicht hat er den ja noch nie gehört.

Am Nachmittag, Freitag, kommt er zu mir und erzählt mir sein Missgeschick. Er war im Meer baden, nicht weit hinein, wegen seiner Brille, sah dann, wie andere unter den Wellen durchtauchten und wollte das auch probieren. Als ihn die Welle erfasste, wurde ihm wieder bewusst, warum er das nicht tun sollte. Seine Brille flog ihm vom Kopf, auf Nimmerwiedersehen eins mit dem Ozean.

Eine Ersatzbrille? Hat er nicht. Deswegen kommt er zu mir. Ich solle ihm helfen, in der nächsten Stadt, Bahia, eine Stunde entfernt, einen Optiker zu finden, der ihm eine neue herstellen konnte. Wann, jetzt? Ja, wenns mir nichts ausmache, gleich. Weil übermorgen gehe sein Flug auf die Galápagos, und da wolle er nicht hin, ohne was zu sehen.

Klar helfe ich, meine Geben/Nehmen-Bilanz etwas ausbalancieren, ab nach Bahia. Die Mission gestaltet sich schwierig. Der einzige Optiker, den sie hier haben, hat geschlossen. Im Nachbardorf, San Vicente, soll es aber noch einen geben. Wir hin, unser Taxifahrer fragt sich durch, ohne Erfolg, den Optiker gibts nicht mehr.

Was jetzt? Da Ismael so oder so nach Quito muss, von wo sein Flug auf die Galápagos-Inseln startet, gebe ich ihm den Ratschlag, gleich heute abend den Nachtbus nach Quito zu nehmen, um den ganzen Samstag Zeit zu haben, sich eine neue Brille zu besorgen.

Das will er dann auch machen. Auf der Rückfahrt sprechen wir über allerlei, von seinem Job in der Marketing-Abteilung bei einer grossen Firma, über Stephen Hawking und seinem Universum in der Nussschale und was wohl nach unserem Tod geschehen würde.

Ein lustiger Kauz, tollpatschig, aber gescheit. Und vom Pech verfolgt. Der einzige Bus, der heute abend direkt von Canoa nach Quito fährt, ist ausgebucht.

Aber es gibt noch andere Möglichkeiten, nach Quito zu kommen. Mit diversen Zwischenstationen sollte es doch noch zu schaffen sein. Als ich mit ihm an der Hauptstrasse auf seinen Bus warte, erzählt er mir von seiner Familie. Vom Vater, der immer alle Zimmer abschliesst, was für Ismael ein eindeutiges Zeichen für Misstrauen ihm gegenüber sei. Von seiner äusserts religiösen Stiefmutter, die ihm, als nicht sehr gläubigen orthodoxen Juden, bei jeder Gelegenheit vorhalte, ein schlechter Mensch zu sein. Und jetzt kommt er, mein Lieblings-Ismael-Satz: „Meine Stiefmutter ist eine wunderbare Frau, ich kann sie nicht ausstehen.“ Sehr neutral und verständlich.

Hoffentlich hat er seine Brille gekriegt. Und hoffentlich macht er noch ganz viele bleibende Bekanntschaften, die ihm helfen, das Leben zu studieren.

Wir machen auch Bekanntschaft mit Benji und Karo. Eine kurze Geschichte von den beiden Deutschen: Sie waren in Taganga (das kleine Party-Dorf neben Santa Marta, Kolumbien) unterwegs. Vom Dorf über den Hügel zum dahinter liegenden Strand. Mitten am Tag. Etwa zur selben Zeit, als Seraina und ich auch da waren.

Drei Jungs versperren ihnen den kleinen Pfad. Pistolen. „Da machst du nichts mehr, wenn sie deiner Frau eine Knarre an den Kopf halten“, erinnert sich Benji kopfschüttelnd. Wir haben von der nicht ungefährlichen Gegend gehört, waren aber selber auch schon unbehelligt zu jenem Strand spaziert.

„Die hätten sie vergewaltigen können und ich hätte zuschauen müssen.“ „Die haben uns nicht nur die Sachen abgenommen“, erzählt Karo weiter, „sie zwangen uns weiter einen Pfad hinauf in die Büsche, wo schon andere Touristen verängstigt warteten. Ich hatte solchen Schiss. Was wollten die mit uns? Erschiessen oder was?“ So mussten sie mit den anderen den restlichen Tag ausharren ohne zu wissen, wie er ausgehen würde. Abends wurden sie endlich freigelassen. „Nach einer solchen Erfahrung wirst du misstrauisch, das ist schade, aber unvermeidlich“, endet Benji.

Wir haben schon einige böse Geschichten gehört. Glück? Gute Engel? Knock on wood, dass uns nie selber sowas zustösst.

Wir lernen hier noch viel mehr Leute kennen. Da ist auch noch Reto, der ausgewanderte Züri Oberländer, der sich mit seiner argentischen Frau ein grossen Stück Land im Norden Ecuadors gekauft und darauf eine Farm mit anliegendem Hotel gebaut hat. Lange, blonde Haare, Tattoos über den ganzen Körper verteilt -  meine Mutter würde ihn als Freak bezeichnen (nicht im schlechten Sinne!) - weiss er viel über die indigenen Völker Ecuadors und anderen Teilen der Welt zu berichten. Selbstverständlichen werden wir in ihr Zuhause eingeladen, wenn wir einmal in die Region kommen. Er schwärmt von der Gegend, von seinen Lamas, Alpacas, den dreizehn Hunden, der Lagune und den Vulkanen rundherum. Canoa bleibt uns mit seinen Menschen, Wellen und Sonnenschein in bester Erinnerung.

Nach fast zwei Wochen treten wir eine weitere lange Reise an. Wir wollen ganz in den Süden des Landes, nach Vilcabamba, ins „Heilige Tal“. Hier sollen sechzig Prozent der Einwohner über hundert Jahre alt werden. Liegt es am heiligen Wasser, das aus den mystischen Bergen rundherum zu ihnen herunterfliesst? Niemand vermag es zu erklären.

Seraina und ich finden ein schönes kleines Cabaña, das wir für eine Woche mieten, um die, wie wir nach zwei Tagen schon sagen können, magische Umgebung zu erkunden.

Was hier sofort auffällt, nicht nur, dass das Dörfchen sauber und ruhig erscheint, sondern auch, dass beinahe mehr Gringos als Ecuadorianer hier leben. Viele Amerikaner, vielleicht angezogen vom langen Leben, sicherlich auch von der Schönheit des Tals, haben sich Ländereien in Vilcabamba zugelegt, um ihren Lebensabend in Frieden zu verbringen.

Die Berge, Pflanzen und das sommerliche Klima hier auf 1600 Meter laden uns zu vielen Wanderung in die Natur ein.

Diese Woche in Vilcabamba müssen wir geniessen, denn danach machen wir uns auf nach Iquitos, Peru, um unsere Voluntärstelle im amazonanimalorphanage.org anzutreten. Das heisst: Mehrere Tage im Bus bis nach Tarapoto bzw. Yurimaguas und nochmal drei Tage in einer Hängematte auf einem Boot mit massenhaft anderen Menschen - und, wie wir immer wieder zu hören bekommen, wirklich schlechtem Essen.