Plaza de Armas, Cusco
Plaza de Armas, Cusco

Innert zwei Wochen reisten wir im Eiltempo mehrere tausend Kilometer von Geoffs Kabine bis nach Chile, wo wir nun endlich richtig rasten dürfen. Mehrere Flüge und Nachtbusse brachten unsere innere Uhr in Rage, unsere Körper zum Aufruhr.
Wohl wissend, dass ein Aufstand kurz bevorstand, zwangen wir uns weiter und weiter in den Süden, um früh genug in San Pedro de Atacama anzukommen und so Seele und Körper eine Verschnaufpause zu verschaffen.
Und was für eine Wonne, jetzt an der Sonne zu sitzen, unter stahlblauem Himmel, einem herrlichen, europäischen Sommertag nicht unähnlich, den Wind an der Haut zu spüren in einer grünen Oase, umrundet von rotbraunem Wüstensand, hier am Rande der Atacama.

 

 

Kalifornien

 

Die allermeiste unserer Zeit in Kalifornien verbrachten wir im Anderson Valley. Um es kurz zu umschreiben: Die Welt könnte untergehen, im Anderson Valley würde es niemand merken.
Nur durchs Radio vernimmt man täglich vom strauchelnden Obama und seinen Politikern von der Aussenwelt. „War on Isis, war on Ebola… war on the entire world. Weisst du, deswegen liebe ich es, hier draussen zu leben. Hier lassen sie dich in Ruhe und du kannst dich um die Dinge sorgen, die dir wichtig sind“, erklärt mir Geoff.
Die Menschen hier im Tal, das von einer Bergkette, einer sogenannten „Ridge“, vom pazifischen Ozean getrennt wird, weshalb hier ein ganz eigenes, meist trockenes Klima herrscht, kennen sich untereinander fast alle, entweder persönlich oder um ein paar Ecken und Kanten. Wie eine einzige grosse Familie lebt man hier zusammen, eine Kommune, die sich um seine Mitmenschen kümmert. Wir erleben hier Geschichten, die uns an wahre – wie heisst das Wort nochmal? – Nächstenliebe glauben lassen.
Einer unserer guten Freunde, dessen Familie schon seit Generationen im Tal lebt, hatte letzten Frühling einen bösen Arbeitsunfall, bei dem er sich einen komplizierten Kiefer- und Schädelbruch zuzog. Operationen sind besonders in den Staaten eine kaum bezahlbare Angelegenheit. Und wir alle wissen über den Zustand der Gesundheitsvorsorge in den USA Bescheid – „Health-Care“ ist hier ein ziemlich luftiger Begriff.
Deshalb startete seine Freundin übers Lokalradio eine Spendenaktion, mit der sie mehrere zehntausend Dollar sammelte, um sein Gesicht zu flicken. Heute fehlen ihm zwar immer noch viele Zähne, aber lachen kann er trotzdem wieder.
Der plötzliche Tod einer allseits beliebten Person im Anderson Valley und guten Freundin von Geoff – und auch von uns – drückt die Stimmung. Obwohl traurig kommen die Menschen nach der Beisetzung zusammen, es müssen mehr als hundert Leute sein, wie wir später erfahren, um ihr Leben zu feiern.
Die meisten Leute hier leben eher einfach – die reichen Weinbauern einmal ausgenommen. Obwohl viele nur wenig Geld haben, kann man sich ein zufriedenes Leben leisten. Manchmal tauscht man Arbeit gegen andere Leistungen, wie Miete, Essen, Yogastunden. Man bestellt seinen eigenen Gemüsegarten. Kleine Summen von Geld zirkulieren oft nur im Tal. Man hilft sich gegenseitig aus.
Das ökologische Bewusstsein ist ziemlich gross. Zum Beispiel sieht man in Nord-Kalifornien kaum noch Plastiktüten – ganz im Gegensatz zu Lateinamerika, das aus Plastik zu bestehen scheint –, organisches Essen ist immer und überall zu finden, man produziert mit Solarzellen seinen Bedarf an Elektrizität, usw.
Nur eines bleibt paradox: Noch immer lieben die Amerikaner ihre grossen Autos, der Sprit ist billiger als in beinahe jedem anderen Land, das öffentliche Verkehrsnetz ist spärlich und die Distanzen, die man fast täglich fährt, sind lang.
Trotzdem bin ich beeindruckt vom hier erlebten Gemeinschaftssinn und Gefühl der Zusammengehörigkeit, die ich als junges, schweizer Individuum kaum noch kenne. Ja, die Amis haben auch ihre guten Seiten.

 

 

Südamerika

 

 

In den zwei Monaten in Kalifornien, in denen wir Geoffs Kabine und die Redwoods manchmal tagelang nicht verliessen, haben wir das Gefühl „ridgy“ kennenlernen dürfen. Von „ridgy“ (von Ridge, also Berg- oder Hügelkette) spricht man, wenn man zu viel Zeit allein im Wald, oder eben auf seinem Hügel, verbracht hat und deshalb beim Verlassen seines sicheren Zuhauses eine mulmige Verstimmung in der Magengegend verspürt.
Nicht nur darum freuen wir uns, unsere Sachen wieder einmal zusammenzupacken und zu verreisen. Dennoch, der Gegensatz hätte nicht gleich so krass sein müssen. Aber so hat er sich eben ergeben.
Zunächst fährt uns Geoff nach San Francisco, wo wir uns von ihm verabschieden und versprechen, uns bald wieder zu sehen. Am nächsten Tag sitzen wir im Bus nach Los Angeles, wo wir nach etwa acht Stunden Fahrt ankommen. Einen Tag lang haben wir Zeit, den hippen – ich mag das Wort überhaupt nicht, aber wenn es irgendwo hinpasst, dann hier – Stadtteil Santa Monica zu besichtigen. Wir sind uns beide einig: Wenn möglich, sind wir das letzte Mal hier.
Dann endlich geht unser Flug nach Lima. Der Trip ist eine Qual. Er war billig und deswegen jetten wir quer durch die Staaten, steigen zweimal um und kommen erst 24 Stunden später in Peru an. Erledigt schmeissen wir uns ins Hotelbett.
Wir haben nicht viel Zeit. In zwei Wochen sind wir mit Serainas Eltern in San Pedro, Chile, verabredet, 2000 Kilometer südlich von hier. Und wir wollen nicht fliegen. Im Gegenteil, wir planen einen Umweg über Bolivien, um uns ein Bild von dem Land zu verschaffen, durch das wir Esther und Roland führen wollen.
In den zwei Tagen in Lima bekommen wir nur einen kurzen Einblick in die Stadt. Mir zu gross, grau und chaotisch, aber Seraina fühlt sich wohl.
Kurz vor unserer Abreise sind wir bei Henry und seinen Eltern zum Mittagessen eingeladen. Ihn haben wir vor über einem Jahr in San Gil, Kolumbien, kennengelernt. Obwohl wir ihn nur flüchtig kennen, fühlen wir uns bei ihm herzlich willkommen. Schade, müssen wir schon weiter.
Achtzehn lange Stunden im Bus werden uns prophezeit. Aber erst 25 Stunden später kommen wir auf 3400 Metern über Meer in Cusco an. Erschöpft entschliessen wir, hier ein paar Tage zu rasten.
Trotz unangenehmen Kopfschmerzen, verursacht durch den zu schnellen Höhenanstieg, gefällt uns die Stadt wirklich gut. Die meisten, wenn nicht alle (andern), Besucher des UNESCO-Welterbe kommen hierhin, um den berühmten Machu Picchu zu bestaunen.
Wir nicht. Uns ist die Ein- bis Zweitages-Tour momentan zu teuer. Vor allem aber wollen wir hier eine kleine Reisepause einlegen. Wer uns fragt, ob wir gingen, belügen wir, Schimpf und Schande fürchtend.
Wir begnügen uns damit, durch die schönen Gassen der Altstadt zu schlendern, auf den farbenprächtigen Märkten interessante Gerichte zu kosten und natürlich die vielen Indigenen mit ihren runzligen Gesichtern, bunten Kleidern und langen, schwarzen Zöpfen zu bewundern.
Einige Tage später steigen wir in den nächsten Nachtbus, der uns nach Copacabana am Titicaca-See in Bolivien bringt. Der höchstgelegene, befahrbare See der Welt und die Landschaft rundherum ist schön. Aber weniger, als ich mir erhofft habe. Die kleine Stadt besteht fast nur aus Hotels, Tour-Büros und Restaurants.
Wir wollen keine Tour zur Isla del Sol, der Legende nach der Ursprungsort der Inkas, oder zu den Floating Islands, den von der indigenen Bevölkerung, den Urus, aus Schilf handgemachten Inseln auf dem See, machen. Zu touristisch. Zu abgestanden.
Stattdessen geht die Reise am nächsten Tag weiter. Auf der dreistündigen Busfahrt nach La Paz wünschten wir uns einen eigenen fahrbaren Untersatz. Um anzuhalten. Zu fotografieren. Zu sehen und staunen. Immer wieder tritt der riesige Titicaca-See in blauen, manchmal karibisch grünen Farbtönen zwischen den kargen Bergen hervor.
Der Anblick während der Einfahrt in die Grossstadt erschüttert mich. Alles in dieser Gegend ist aus billigen, rostroten Backsteinen erbaut. Erst als wir ins Zentrum hinab in einen gewaltigen Talkessel ruckeln, wird La Paz interessant. Von hier, einem nördlichen Stadtteil, kann man über die ganze restliche Stadt blicken. In der Ferne türmt sich der schneebedeckte, 6500 Meter hohe Illimani auf.
Zwei Tage lang spazieren wir durch den touristischen Kern von La Paz. Es gilt dasselbe wie in Cusco: Hierher müsste man mal mit einem leeren Rucksack und vollem Geldbeutel kommen. Ponchos, Jacken, Pullis, Socken, Hosen, Kappen und Handschuhe in allen Farben und Mustern, meist aus Lama- oder Alpacawolle… Hier findet man die schönsten Winterkleider.
Nach insgesamt drei Tagen in Bolivien fahren wir weiter Richtung chilenische Grenze. So hässlich, kahl und Baustellen überlastet wie der erste Teil, von der Fahrt ist – von La Paz nach Oruro –, so märchenhaft schön ist die Strecke an die Grenze. Wiederum zu schade, dass wir nicht anhalten können. Die mondartige Wüstenlandschaft, seine Salzpfannen und die Steppen, auf denen unzählige Lamas und Schafe weiden, fordern uns dazu auf. Der Busfahrer jedoch nimmt seinen Zeitplan ernst.
23 Stunden im Bus später fahren wir in die Oase San Pedro de Atacama ein. Wir haben unser Etappenziel erreicht; zwei Wochen nachdem wir Kalifornien verlassen haben, fünf Tage vor Ankunft von Serainas Eltern.
In diesen Tagen werden wir ausspannen, keine Wecker stellen, in die Sterne gucken und die Wärme in diesem kleinen Wüstendörfchen aufsaugen. Bald genug geht es von neuem los, durch die salzverkrusteten Flächen der Atacama und Uyuni, zurück in die kühlen Höhen der Altiplanos von Bolivien. Diesmal jedoch in Belgeitung der (Schwieger-)Eltern.