El Yacuruna (Eine Erzählung)

Der Mensch sieht, hört, spürt. Er sammelt viele Erfahrungen in seinem Leben. Erzählungen entstehen, meist sind sie schaurig, doch auch schöne und hoffnungsvolle existieren. Sie werden weitergegeben von Generation zu Generation. Was einstmals der Grossmutter erzählt wurde von deren Vorfahren, wird heute wiederum an die Jüngsten weitergegeben. Sie dienen als Wurzel, Rat und Hilfe für das zukünftige Leben jedes Einzelnen. Doch Erzählungen haben es schwer im heutigen modernen Zeitalter, wo alles logisch sein soll und bewiesen werden muss. Was einst tief geglaubt und gelebt wurde, wird nun beurteilt und somit meist auch verurteilt.


In Peru, besonders in den dichten Wäldern des Amazonas, findet man immer noch etliche Sagen und mystische Gestalten. Viele Gemeinschaften liegen Stunden entfernt von der modernen Welt. Sie sind tief verankert in ihrer Kultur, dem Wissen fürs Überleben und den Sagen, die ihnen den Weg weisen. Von dort kamen die Menschen einst, taten sich zusammen und bildeten die ersten Dörfer, bald die Städte. Padre Cocha ist gerade mal 95 Jahre alt und zählt an die 3000 Menschen. Wir wohnten einen Monat in diesem Dorf und arbeiteten mit Einheimischen zusammen. So geschah es, dass wir Volontäre bald auch auf das Thema der Mythologien zu sprechen kamen. Wir wollten mehr über die Spirits des Amazonas erfahren und merkten, dass einiges Wissen bei unseren Arbeitskollegen zu holen war. Die ersten Informationen kamen jedoch nur zögerlich. Wir erfuhren vom Chullachaqui, dem Wicht mit einem menschlichen und einem tierischen Bein, der Menschen tief in den Wald lockt und sie nimmer wieder zurückkehren lässt. „Der Grossvater meiner Frau hat ihn gesehen, ist ihm aber zum Glück entkommen.“, erzählt Gilbert. Wir lachen verlegen, wissen nicht, ob wir es glauben sollen oder nicht. Doch der junge Spassmacher schaut uns ernst in die Augen und wir werden hineingezogen in das Unerklärliche, mystische und doch präsente. „Jede Geschichte hat etwas Wahres“, denke ich und ein Schauder schleicht sich meinen Rücken hinunter.

 

So kommt es, dass wir weiterfragen, neugierig sind wie kleine Kinder, alles wissen wollen. Secundo, ein Arbeiter und Vertrauensperson von Gudrun, will uns mehr erzählen. Wir sollen am Abend zu ihm nach Hause kommen, und er werde uns ein paar Erfahrungen erzählen. Wir sind pünktlich vor Ort und voller gespannter Erwartung. „Erzählst du uns nun diese Geschichte?“, Secundo wird ernst: „Es ist keine Geschichte, es ist die tragische Wahrheit, es war ein Freund meines Vaters, der dies miterlebt hatte.“

In Nauta, einem Städtlein nahe Iquitos, steht das Jahresfest an. Als Joel nach Hause zu seiner Frau kommt, weist er sie an, schon mal die Mahlzeit zuzubereiten. Er wolle unterdessen zum Fluss gehen, um sich zu waschen. Als er dort ankommt, sieht er einen Mann auf dem Steg sitzen. „Ich habe dich bereits erwartet“, sagt dieser. Ehe Joel sich versieht, wird er vom Mann gepackt und in die Tiefen des Wassers gezogen.
Als Joel nach geraumer Zeit nicht nach Hause zurückkehrt, beginnt seine Familie sich Sorgen zu machen. Sie machen sich auf die Suche nach ihm. Doch am Ufer des Flusses finden sie nur Joels Seife und seine Kleider. Joel selbst bleibt wie vom Erdboden verschluckt. Sie rufen den Brujo (Heiler), der sich die Räume im Haus der Familie genauestens ansieht. Er weiss schon bald, was Joel zugestossen ist. Joel kann nur dem Yurimagua, dem im Wasser lebenden Mann, begegnet und von ihm ins Wasser gezogen worden sein. So beschliesst er etliche starke Männer zusammenzurufen, die Joel in der Sekunde seines Auftauchens packen und aus dem Wasser ziehen sollen. Letzterer solle nämlich unterdessen übernatürliche Kräfte entwickelt haben, was dieses Unternehmen erschweren wird. Drei Brujos und die Helfer finden sich am Fluss zusammen. Sie warten geduldig auf das Auftauchen Joels. Nach geraumer Zeit geschieht es – Joel kommt an die Wasseroberfläche. Nur ist er verändert. Blutegel sind dort, wo einst seine Nase war, seine Augen sind gross und rund und seine Knie nach innen geknickt. Nur mit Pusten der Brujos kann Joel ruhig gestellt werden, damit die Männer ihn aus dem Wasser ziehen können. Joel weiss nicht, was ihm zugestossen ist, nicht mal mehr, wer er ist. Mittels Trance finden die drei Brujos heraus, dass er unter Wasser gezwungen wurde, rohen Fisch zu essen.
„Entweder du isst den grossen Fisch oder er wird dich essen.“ Er hatte keine Wahl und ass. Mit jedem Bissen verwandelte er sich Stück für Stück in einen Yurimagua. Das Ganze geschah nur, weil der Yurimagua seine Tochter mit Joel verheiraten wollte.
Als Joel nun auf dem Trockenen daliegt, bringt ihn seine Familie zu seinem Haus. Er erkennt es nicht mehr. Erst mit der Zeit fühlt er sich wieder wohl darin. Er lebt fortan nur noch im Haus, die Verwandlung konnte nicht rückgängig gemacht werden. Er geht nicht mehr ins Freie und isst keinen Bissen mehr.

 

„Drei Monate danach verstarb er“, endet Secundo seine Erzählung.

 

Secundo (ganz rechts) nach seiner Erzählung
Secundo (ganz rechts) nach seiner Erzählung