Ankunft im Pilpintuwasi

Padre Cocha ist ein 3000-Seelen-Dörfchen am Ufer des Nanay, der sich bei Iquitos in den Amazonas ergiesst. Um es zu erreichen, nehmen wir in Bella Vista, einem der etwa fünf Häfen in Iquitos ein Colectivo-Boot, das gemächlich den Fluss hochtuckert.
Eine halbe Stunde später stehen wir vor unserem Cabaña, das für die kommenden fünf Wochen unser Zuhause sein wird.
In Iquitos zu wohnen, könnten wir uns nicht vorstellen. Der Lärm, der Verkehr, all die Leute. Die vielen Mototaxis, die hier herumbrausen, erinnern an den Tuktuk-Verkehr in Thailand. Autos und Lkws gibt es hier nur wenige, logisch, wenn man bedenkt, dass alles auf Schiffen hertransportiert werden muss.
In Padre Cocha sind die Wege gerademal breit genug, damit zwei der dreirädrigen Mototaxis aneinander vorbeipassen. Die Menschen leben in simplen Hütten in der Stille ausserhalb der Grossstadt. So macht es auf den ersten Blick den Anschein.
Was wir noch nicht wissen bei unserer Ankunft ist, dass das Dorf erst seit drei Monaten Anschluss ans Stromnetz hat. Diese fortschrittliche Entwicklung zelebrieren die Einwohner so:
Die einen leasen sich neue Lautsprecher, andere besorgen sich woher auch immer alte Boxen, und so ist schätzungsweise jeder zweite Haushalt stolzer Besitzer eines ohrenbetäubenden Soundsystems.
Es kommt öfters vor, dass irgendein lieber Nachbar nach dem Aufstehen um sechs Uhr morgens als erstes die Lautsprecher aufdreht, ohne Gedanken daran zu verschwenden, dass sich jemand im Dorf darüber stören könnte. Wie wir schon bald feststellen müssen, fehlt den Leuten hier der Sinn für Respekt anderen gegenüber. Weder ist hier Stille im Eigenheim Grundrecht, noch der Wunsch der Menschen (jedenfalls wird er anscheinend nicht geäussert).
Auch der Dorfsprecher – wer diese liebreizende Person auch immer ist – lässt die neue Technologie nicht ungenutzt. Über zentralgelegene Megaphone, die noch im letzten Eck des Dorfs zu vernehmen sind, verkündet er – manchmal auch schon in der Früh – die Neuigkeiten des Tages, macht Werbung für Restaurants und Läden im Dorf, die eh schon jeder kennt, und preist Gott und Jesus und Maria und sich selbst dazu.
Wenn ich’s mir recht überlege, besteht der Wunsch der meisten Padre Cochaner wohl eher darin, ja nie Stille oder die Geräusche der Natur aushalten zu müssen. Immer laufen irgendwo Fernseher und Musik in desaströser Qualität und zweifelhaften Geschmack.
Ich kann mir vorstellen, dass, bis sie hier mitten im Dschungel wieder zurück zur Natur finden, noch Generationen vergehen werden.

Erstmal aber sind wir beide zufrieden, die Privatsphäre eines eigenen, geräumigen Cabañas geniessen zu können und zumindest für die kommenden Wochen in keinen Reisebus oder ähnliches steigen zu müssen. Die Rucksäcke sind leer, die Kleider im Regal und die Schlafsäcke aufgehängt.
Dann fängt unsere erste Woche im Pilpintuwasi an. Wir sind fünf Volontäre: Tony und Kathy, ein schottisches Paar, sind bereits seit einem Monat hier und können Seraina und mich bestens einführen. Dan – halb Neuseeländer, halb Engländer – hat letzte Woche angefangen.
Ich weiss jetzt schon, dass mir die Arbeit mit Tieren gefallen wird. Einer unserer Jobs ist aber auch, die englischen Rundgänge zu führen. Das wird uns in den ersten paar Tagen erspart; zuerst müssen wir uns all die Informationen, die wir vermitteln sollen, einprägen. Darüber kann ich nur froh sein, dieser Teil unserer Tätigkeiten gehört sicherlich nicht zu meinen liebsten.
Wenige Leute zu führen und aufzuklären über das Geschehen im Amazonas kann erfüllend sein. Stressig wird es jedoch, wenn grosse Touristengruppen ankommen. Das sind üblicherweise die Momente, die sehr anstrengend sind. Wenn zehn, zwanzig oder gar mehr Leute durcheinander reden und wie Kinder einfach nicht zuhören wollen, wenn man ihnen ausdrücklich befiehlt, die Affen nicht anzufassen und ohne Blitz zu fotografieren, wenn sie besserwisserisch behaupten, sie wüssten, wie mit Affen umzugehen sei – das kann tierisch auf den Geist gehen.
Wenn wir als Führer in diesen Augenblicken noch zusätzliches Glück habe, kommt Gudrun dazu, was heisst, dass es nicht nur Haue für die Besucher, sondern auch für uns Freiwillige gibt, weil wir die Leute sichtlich nicht im Griff haben.
Ja, Gudrun kann ziemlich aufbrausend sein. Zunächst vernehmen wir diese Tatsache von anderen Volontären, die schon Auseinandersetzungen mit ihr hatten; natürlich auch von ihren peruanischen Arbeitern, die sie regelmässig aufgrund ihrer Unzuverlässigkeit zusammenstaucht.
Im Verlauf unseres Einsatzes werden wir davon hie und da ebenfalls Augen- und Ohrenzeugen, wobei ich aber bemerken darf, dass Seraina und ich meist sehr gut mit Gudrun auskommen.
Wenn es jedoch um ihre Affen oder andere Tiere geht, die falsch behandelt werden, wacht ihr Mutterinstinkt auf, und wehe dem, der dann zwischen ihr und ihren Kleinen steht!

 

Gudrun Sperrer lebt seit über dreissig Jahren in Peru und gründete vor bald zwanzig das Papillonrama in Padre Cocha – Mariposario, wie es hier genannt wird. Daher auch der Name: Pilpintuwasi, was aus dem Quechua übersetzt „Schmetterlingshaus“ bedeutet.
Mit der Zeit begannen Unbekannte, Tiere bei ihr abzuladen – vor allem Jungtiere wie Pedro der Jaguar –, die sie entweder nicht mehr halten oder nicht verkaufen konnten. Auch von der Öko-/Touristenpolizei konfiszierte Tiere finden bei ihr Unterschlupf. Leider „retten“ manchmal auch Touristen, inklusive Volontäre, Tiere, die sie auf dem Markt im Angebot entdecken. Aus Mitleid kaufen und bringen sie sie in die Auffangsstation.
Wenn man kurz darüber nachdenkt, erkennt man den Grund, warum dies das falsche Verhalten ist. Was macht ein Jäger, der am Markt seine Beute verkaufen kann? Ein gutes Geschäft. Also fährt er in den Dschungel und schiesst sich weitere Affenmütter, um an ihre Babys zu kommen.
So ist Pilpintuwasi heute nicht nur ein Zuhause für Schmetterlinge, sondern ein Heim für Affen, wilde Katzen, Faultiere und Paradiesvögel. All die wollen wir den Leuten auf einem Spaziergang durchs Gelände näherbringen.

Die Tour

Red Uakaris
Red Uakaris

Wenn sie gerade bei der Hütte am Teich herumhängen, dann beginnen wir die Tour mit den Red Uakaris. Auf Deutsch heissen sie Stummelschwanzaffen, aber Uakari gefällt mir besser. Sie sind eine der stark bedrohten Tierarten hier. Wie die meisten anderen Tiere werden sie gejagt, um sie als Haustiere zu halten oder an Zoos zu verkaufen. Sie werden auch gegessen. Die Menschen hier im Amazonas essen fast alles.
Sie sind ganz leicht erkennbar an ihren roten Gesichtern, weswegen sie auch englische Affen genannt werden. Die Farbe kommt von den Kapillaren, die sich nahe an der Hautoberfläche befinden.
Eigentlich weiss man nur wenig über sie. Erst seit wenigen Jahren werden sie genauer erforscht und beobachtet.
Sie erschienen mir anfangs wegen ihrem Aussehen nicht gerade sympathisch. Jetzt aber liebe ich sie. Manchmal sehr verspielt, dann wieder in der Hitze vor sich hin vegetierend, weisen sie durchaus menschliche Züge auf. Und jeder einzelne von den acht freilebenden hier hat seinen eigenen Charakter: Felix, noch jung und verspielt, Pauli, die älteste, die gerne auf die Mädels losgeht, und dann natürlich die kleine Britta, noch fast ein Baby, knapp über ein Jahr alt. Auf sie ist Gudrun besonders stolz. Nie zuvor hat es Nachwuchs roter Uakaris in einer Auffangsstation gegeben. Wir müssen sie ständig im Auge behalten, damit sie ja nicht im Teich ertrinkt oder von einem Geier geholt wird. Bald aber ist sie gross genug, um auf sich selber aufzupassen.
Ab und zu zeigt sich Ali bei uns. Er ist ein Prachtexemplar von einem roten Brüllaffen. Stolz wie ein Löwe klettert er durchs Gehölz. Auch er lebt hier frei auf dem Gelände, seit er als Baby von Gudrun aufgenommen wurde. Nur sonntags muss er mit List eingefangen werden, damit jeweils am Montag Nico aus seinem Gehege darf. Denn gerieten Nico, das dominante Uakarimännchen, und Ali nochmals aneinander, hätte Nico vielleicht nicht mehr so viel Glück wie schon einmal, als ihm Ali die Kopfhaut aufriss und ihn beinahe tötete.

Ali, roter Brüllaffe
Ali, roter Brüllaffe
Frisch geschlüpfte Morpho- und Eulenschmetterlinge
Frisch geschlüpfte Morpho- und Eulenschmetterlinge

Noch sind wir ganz am Anfang unserer Tour. Erst jetzt spazieren wir los, betreten das Schmetterlingshaus und staunen. Eine grüne Welt aus Dschungelpflanzen durchzogen von einem romantischen Pfad erwartet uns. Vielleicht fliegt uns gerade einer der blauen Morphos über den Weg, der jedem sofort ins Auge fällt. Es könnte aber auch ein gelb-schwarzer Glasflügler sein oder eine andere der siebzehn Spezies, die Gudrun hier züchtet.
Klar, sehen wir nicht alle von ihnen, aber ganz bestimmt eine Menge der Eulenschmetterlinge, die fast so eindrucksvoll wie die Morphos auf Früchten sitzen, wo sie sich ernähren. Die zwei grossen Augen auf ihren braunen Flügel lassen ihren Namen erahnen. Schnell packe ich einen zwischen meinem Zeige- und Mittelfinger und drücke mit denselben Fingern der anderen Hand die unteren Flügel nach vorne.
Mit offenem Mund bewundern die Besucher die trickreiche Natur des Buhos (spanisch: Eule). Mit auf diese Weise geöffneten Flügeln sieht er einem echten Eulengesicht, das sicher jeden Feind in die Flucht schlägt, erstaunlich ähnlich. Ich öffne meine Finger wieder, und geschwind fliegt der Schmetterling davon.
Hier im Schmetterlingsgehege und nebenan im Zuchthäuschen erklären wir den Besuchern die Metamorphose, die jeder Schmetterling in seinem normalerweise fünf- bis sechsmonatigen Leben durchmacht.
Ich habe mich nie wirklich mit Schmetterlingen befasst, aber jetzt so viel über sie zu lernen, ist grossartig – die Natur von ihrer besten Seite.
Der Zyklus beginnt mit einem vielleicht einen Millimeter im Durchmesser kleinen Ei. Je nach Spezies ändert sich die Farbe. Diese Eier lesen wir wenn möglich zweimal am Tag von der jeweiligen Pflanze ab, bevor sie ein parasitischer Nestleger für seine eigenen Eier missbrauchen kann. Wenn man die Pflanzen kennt, welche die Schmetterlinge für ihre Eiablage benutzen – jede Schmetterlingsart hat eine oder zwei spezifische Hostpflanzen –, sind sie einfach auszumachen. Hostpflanzen (host: englisch für Gastgeber) nennen wir die Pflanzen, die ein Schmetterling zum Eierlegen benutzt, aber auch im Raupenstadium frisst.
Drüben im Zuchthaus zeigen wir die durchsichtigen Reagenzgläser, in denen kleine Haufen von Eier zu erkennen sind. Die Gläser sind mit Watte verschlossen, um sie vor Ameisen und anderen gefrässigen Feinden zu schützen. Darin wachsen winzige Larven heran, die nach einer knappen Woche schlüpfen, ihre Eierschale vertilgen und von uns schliesslich auf ihre Hostpflanze verlegt werden.
Jetzt beginnen die Larven zu fressen. Je nach Art – zum Beispiel der Eulenschmetterling – haben sie dazu bis zu fünfzehn Wochen Zeit. Aus der wenige Millimeter langen Larve wird eine zehn bis fünfzehn Zentimeter lange Raupe, einer nackten Schnecke nicht unähnlich. Da staunt man nicht schlecht! Und aus diesem Ding soll ein so schöner Schmetterling entstehen? Wir sehen weiter.
Hat die Raupe einmal fertig gespiesen, kriecht sie unter einen Ast oder Blatt, um sich zu verpuppen. Kopfüber hängt sie sich an einen körpereigenen Seidenfaden, um sich fürs nächste Stadium vorzubereiten. Dabei entsteht unter der Raupenhaut eine weitere, dickere Haut oder Schale. Zwei bis drei Tage später löst sich die Raupenhaut; der Schmetterling befindet sich in der dritten Phase seines Lebens: Puppe oder Kristalis genannt.
In dieser Puppe entwickelt sich nun innerhalb von zehn bis fünfzehn Tagen der eigentliche Schmetterling. Die Puppen hängen – durch ihre Farbe und Form perfekt getarnt – ganz still, nur gelegentlich rührt sich etwas im Innern.
Wenn die Zeit kommt, schlüpft der von der Puppenflüssigkeit noch feuchte Schmetterling in seiner ausgewachsenen Grösse und hängt sich an die übrig gebliebene Puppenhülle. Die Weibchen tragen die noch unbefruchteten Eier bereits in sich. Hier defäkiert er, um sein Körpergewicht zu verringern und wartet, bis seine Flügel vollständig getrocknet sind.
Dann endlich – nach sieben Tagen im Ei, fünfzehn Wochen als Raupe, drei Tagen im Vorpuppenstadium, fünfzehn Tagen in der Kristalis und weiteren drei Stunden Flügel trocknen – beginnt der Schmetterling zu fliegen.
In den nächsten ein bis zwei Wochen, die ihm noch bleiben in seinem kurzen Leben, darf er – sich von Frucht- oder Blütenzucker ernährend – das Fliegen geniessen und unsere Augen entzücken. Vor allem aber sucht er nun einen Partner, beziehungsweise eine Partnerin.
Wenn das Weibchen bereit ist, setzt es sich auf eine Pflanze und öffnet ihre Flügel. Sie sendet dabei Botenstoffe aus, die die Männchen bis aus einer Ferne von fünfzehn Kilometern anziehen.
Meistens fliegen nun mehrere Männchen heran, um sich zu beweisen. Eines nach dem andern beginnt jetzt den „Liebestanz“, der bis zu zwei Stunden dauern kann. Das Männchen fliegt nun – seine Kunst vorführend – um das Weibchen herum, bringt es zuweilen selbst zum „Tanzen“.
Kann Er Sie beeindrucken, öffnet sie ihre Flügel noch mehr und stösst ihm ihren Körper zu. Sie ist bereit, sich zu paaren.
Akzeptiert sie ihn allerdings nicht, schliesst sie ihre Flügel ganz einfach wieder und lässt den nächsten Anwärter sein Glück versuchen – Entschuldigung, sein Können unter Beweis stellen.
Beim Paaren stecken die zwei Schmetterlinge ganze 24 Stunden – je nach Spezies kann das auch 48 Stunden dauern – zusammen.
Wenn die Eier schliesslich befruchtet sind, sucht sich das Weibchen ein geeignetes Blatt ihrer Hostpflanze und legt und klebt sie darauf.
Auf diese Weise schliesst sich der Kreis, bald darauf sterben die Schmetterlinge. Interessant zu wissen, dass in der Wildnis gerade mal drei Prozent den Zyklus vom Ei bis zum Schmetterling überleben. Hungrige Mäuler, neugierige Kinderfinger und dutzende andere Gefahren lauern auf ihrem Lebensweg.

Zwergseidenaffenpapa mit Bébé
Zwergseidenaffenpapa mit Bébé

Nach dem Zuchtraum für Schmetterlinge kommen wir nun zu den „aufgefangenen“ Tieren. Im ersten Gehege – och, wie süss! – sehen wir die Zwergseidenäffchen, winzig und flink wie Hamster. Sie sind die kleinste Affenart der Erde. Ihre Besonderheit ist, dass sie fast ausschliesslich zwei Babys aufs Mal auf die Welt bringen: eines weiblich, das andere männlich. Dabei ist es des Vaters Aufgabe, sich um sie zu kümmern und sie auf seinem Rücken zu tragen. Es kann auch einmal ein Onkel einspringen und eines der Kleinen übernehmen.
Hier haben wir momentan sieben, davon zwei Junge, die langsam aber sicher den Schutz des Vaterrückens verlassen, um auf eigene Faust ihre Umgebung zu erkunden.
Die ersten beiden, die hierhergebracht wurden, hatte man in einer Box auf dem Flughafen von Iquitos gefunden. Sie sollten in Lima verkauft werden.
Das Traurige dabei: Die Leute wissen nicht, dass die Tiere 25 bis 30° Celsius Dschungeltemperatur benötigen und sich nicht von Bananen, sondern fast ausschliesslich vom Saft bestimmter Bäume ernähren. Statt sich zu informieren, warum ihre neuen Haustiere sterben, werden oft einfach weitere angeschafft.
Ich werde öfters gefragt, ob wir die Tiere wieder auswildern und bin gezwungen, mit nein zu antworten. Theoretisch wäre es selbstverständlich möglich, gewisse Tiere freizulassen, nachdem sie vollständig genesen sind. Affen, Schlangen und Vögel zum Beispiel. Der Jaguar hingegen würde wohl schnell erschossen werden, da er zu nahe an Wohnsiedlungen käme.
In der Realität sieht es jedoch so aus, dass es Gudrun vom peruanischen Gesetz her nicht erlaubt ist, Tiere auszuwildern. Hirnrissige Bürokraten hindern sie daran. Alle Tiere bleiben also ihr restliches Leben hier. „Dann ist Pilpintuwasi also mehr oder weniger ein Zoo?“, lautet die nächste Frage. Ich erwidere, dass im Gegensatz zum Zoo in Iquitos und anderen falschen Auffangsstationen, die ihre Tiere zur Unterhaltung der Touristen aus dem Dschungel holen lassen, hier Tiere lediglich einen Platz geboten wird, wo ihre Wunden heilen können und sich Menschen um sie kümmern. Ausserdem ist Pilpintuwasi eine private Einrichtung, die rein durch ihre grosszügigen Besucher und freiwilligen Helfer überleben kann.

Toni, die Kapuzinerin
Toni, die Kapuzinerin

Wir fahren fort und stehen den Kapuzineraffen gegenüber, einem braunen und drei hellen. Für sie müssen wir Volontäre jeden Morgen mit PET-Flaschen, Schnur, Karton, Stöcken und weiteren Dingen Affenspielzeuge basteln, die mit Leckereien versehen sind. Dabei geht es darum, dass sie nicht ganz so einfach an ihr Futter – Bohnen, Bananen, Erdnüsse, Papaya und und und – gelangen, sondern ihre Köpfchen ein wenig anstrengen müssen. Sie werden als die intelligentesten Affen in Südamerika betrachtet und werden gerne mit einem dreijährigen – je nachdem wen man fragt – oder sogar achtjährigen Kind verglichen. In der Wildnis wissen sie Werkzeuge herzustellen und zu benutzen.
Die Kapuziner pflegten, frei auf Gudruns Land herumzuklettern, bis sie aufgrund ihrer sexuellen Reife aggressiv gegenüber Besuchern wurden. Besonders gefährlich für Frauen kann Toni werden; aus Eifersucht auf die Freundinnen gewisser männlicher Besucher.
Tonis Geschichte fasziniert: Sie wurde von einer kriminellen Bande zum Taschendieb dressiert und verhalf ihr zu unzähligen Geldbörsen und Schmuckstücken. Eines Tages wurde sie ausgesetzt und schliesslich halbverhungert in einer Gasse entdeckt.

Lucy mit ihrem Kleinen
Lucy mit ihrem Kleinen

Die Löwenäffchen im nächsten Gehege sind nicht viel grösser als die Zwergseidenäffchen. Francisco, der schwarze mit dem weissen Schnauz, und Kuko, der goldbraune, lebten ebenfalls frei auf dem Gelände. Eine wilde Löwenaffenfamilie streift jedoch ab und zu hier vorbei und machte den beiden Ärger. Am Ende mussten Francisco und Kuko zu Alejandro und seiner Familie ziehen.
Alejandro und Lucy sind zweifingrige Faultiere, nicht von derselben Art, aber trotzdem haben die beiden frischen Nachwuchs.
Sie leben friedlich mit den Affen zusammen. Es kommt sogar vor, dass alle zusammen in derselben Kiste auf einem Haufen schlafen. Die Faultiere sieht man nur mit Glück. Rund zwanzig Stunden pro Tag verbringen sie schlafend in ihrer Kiste. Bloss zwischendurch machen sie sich die Mühe herunterzuklettern, um zu fressen. Sie sind eine niedliche Familie, aber trotzdem nicht freiwillig hier. Wie fast alle Tiere im Pilpintuwasi haben sie eine traurige Vergangenheit in Gefangenschaft.
Um ihr Gehege krächzen die Papageie; rot-grüne, blau-gelbe und scharlachrote. In freier Natur sähe man sie nie auf diese Weise zusammen, weil sie strikt mit Gleichfarbigen zusammenleben. Hier jedoch schwatzen und schreien sie alle mit- und durcheinander. Sie sind beliebte Haustiere in Südamerika. Man findet sie in Restaurants, Hotels, bei Leuten im Dorf. Damit sie nicht davonfliegen, werden ihnen die Flügelfedern gestutzt. Dies ist auch den rund zehn Exemplaren im Pilpintuwasi widerfahren.

Tukan mit Loch im Schnabel
Tukan mit Loch im Schnabel

Im hintersten Käfig befinden sich die Tukane, wunderschöne Vögel, denen ihr einzigartiges Aussehen zum Verhängnis werden kann, wenn sie den Weg mit dem Menschen kreuzen.
Unsere zwei wurden als Haustiere gehalten. Ihr ehemaliges Herrchen, ein Restaurantbesitzer in Iquitos, fütterte sie statt mit Früchten und Nüssen mit Hundefutter. Die Ignoranz vieler Menschen hier ist manchmal kaum zu fassen.
Dem einen der beiden Vögel faulte durch die Fehlernährung ein Loch in den Schnabel, das nie ganz verheilen konnte. Dennoch erholten sich beide wieder. Eine Schande, dass sie nicht in die Freiheit entlassen werden dürfen.
Für Tukane ist es überlebenswichtig, ständig fressen zu können, da sie einen sehr hohen Stoffwechsel haben. Ohne Futter sterben sie innert fünf Stunden.

 

Daneben leben in einem grossen Käfig verschiedene Loros, Spyx’s Guans und ein Trompetenvogel. Immer in der Dämmerungszeit schreit und ruft und krächzt es hier, als wäre man in einem Irrenhaus. Der schwarze Trompetenvogel wird gerne als Haustier gehalten, weil er trompetenartige Geräusche erzeugt, sobald er eine Schlange sichtet. Er ist, wie auch die Fasan artigen Spyx’s Guans, sehr territorial und jagt die anderen Vögel im Gehege herum.
Den grünen Loros scheint dieses Treiben egal zu sein. Sie hangeln am Gitter entlang oder sitzen auf ihren Ästen und unterhalten sich – junge wie alte Menschen imitierend – miteinander.

Dreifinger-Faultier
Dreifinger-Faultier

Neben dem Vogelkäfig schläft Thomas auf seiner Kiste. Im Gegensatz zu den Zweifinger-Faultieren, die ein bräunliches Fell haben, ist Thomas mit seinen drei Fingern grau. Mir scheint, er ist etwas aktiver als Alejandro und Lucy. Öfters trifft man ihn an seiner Futterstelle an, wo er Blätter mampft. Trotzdem schläft auch er den grössten Teil des Tages. In der Wildnis halten sich diese Faultiere meist in Bäumen über Gewässern auf, von wo sie Angriffen von Jaguaren oder Greifvögeln einfach entgehen können, in dem sie sich in den Fluss fallen lassen und flink davonschwimmen.
Sie verbringen ihr Leben fast ausschliesslich kopfüber hängend in den Bäumen. Gut, müssen sie nur alle ein bis zwei Wochen ihr Geschäftchen erledigen, welches sie unten auf dem Boden verrichten, wo sie Feinden schutzlos ausgeliefert sind.

Unterwegs mit Harry dem Ozelot
Unterwegs mit Harry dem Ozelot

Wir lassen Thomas weiterschlafen und kommen zu meinem Lieblingstier im Pilpintuwasi. Wo ist sie denn? Ah, da oben liegt sie auf ihrem Gestell. Harry, komm herunter, zeig dich!
Manchmal bleibt sie auf der faulen Haut liegen, aber normalerweise streckt sie sich gähnend und spaziert graziös, wie es die Art von Katzen ist, den dicken Ast zu ihrem kleinen Teich herunter, wo wir schon geduldig warten.
„Wow, wie schön sie ist!“, sagen viele. „Aber ausgewachsen ist sie noch nicht, oder?“
Doch Harry der Ozelot ist mit ihren fünf Jahren erwachsen und etwa doppelt so gross wie eine normale Hauskatze. Und gerade deswegen muss man die Besucher immer wieder warnen. Obwohl sie zum Knudeln aussieht, hat sie messerscharfe Krallen und Zähne, die wir nicht zu spüren bekommen wollen.
„Harry ist eine Sie?“, will jemand wissen.
Harry kam vor etwa vier Jahren ins Pilpintuwasi. Sie sollte als kleines Kätzchen am Boulevard in Iquitos an Touristen verkauft werden. Die Ökopolizei griff sie auf und ein kleiner Strassenjunge namens Harry hilf, das halb verhungerte Ozelot-Weibchen zu pflegen, bevor sie hierher kam. Dem Strassenjungen zum Dank verlieh man dem Kätzchen seinen Namen, ohne auf ihr Geschlecht zu achten.
„Sie muss einsam sein ganz alleine in diesem Gehege.“ Wie alle Katzenartigen sind auch Ozelote Einzelgänger. Sicher ist ihr Gehege viel zu klein für ihre natürlichen Bedürfnisse. Vor allem die Jagd fehlt ihr, schätze ich. Um etwas Ausgleich zu verschaffen, fischen wir unten am Eingang im Teich kleine Fische, die wir abends lebend in ihr Pool werfen. So hat sie zumindest etwas zu jagen. Wenn man zuschaut, stellt sie sich jedoch ziemlich tollpatschig an und traut sich kaum, ihre Tatzen nass zu machen. Ziemlich lustig! Morgens sind aber jeweils alle Fische verschwunden, was darauf hinweist, dass sie tag- wie auch nachtaktiv ist.
Wann immer dazu Zeit ist – leider nicht sehr häufig – dürfen wir Volontäre zu zweit mit Harry an der Leine spazieren gehen – auf eigene Gefahr!
Ich wusste schon bevor wir im Pilpintuwasi angefangen haben, dass ich das versuchen wollte. Zweimal komme ich in den Genuss, mit Harry durch die Büsche zu streifen. Worauf dabei besonders zu achten ist: Man darf ihr nicht zu nahe kommen, soll heissen, die Leine ist straff zu halten. Wenn man diesen Hinweis umsetzen kann, hat man Harry im Griff. Seit sie klein ist, laut Gudrun, nagt sie gerne an Kniescheiben rum. Deswegen ruft Gudrun Dan und mir auch „deppert!“ hinterher, als wir mit Harry in kurzen Hosen im Wald verschwinden.
Nur am Anfang war es mir etwas mulmig zumute, mit einer wilden Katze an der Leine im Dschungel herumzuspazieren. Als ich lernte, wie die Leine zu benutzen ist, um sie auf Distanz zu halten – zwischendurch will sie einen spielerisch anspringen – wuchs mein Selbstbewusstsein schnell. Ausser wenigen winzigen Kratzern am Ellbogen konnte sie nie blutige Spuren hinterlassen. Sie ist normalerweise auch immerzu beschäftigt, ihrer Nase zu folgen. Ihr Geruchssinn ist sehr ausgeprägt, ständig hält sie ihre Nase in die Höhe und geniesst die Freiheit, soweit wir es ihr ermöglichen können.
Am Markt in Iquitos kann man mit eigenen Augen sehen, was man aus Ozelot herstellen kann. Da werden Felle angeboten, Tatzen als Halsketten... Wir versuchen unsere Besucher darauf hinzuweisen, diese Produkte nicht zu kaufen. Ozelote bekommen nur alle zwei Jahre Nachwuchs, und da sie leicht zu jagen sind – unter anderem weil sie die Pfade der Menschen benutzen –, ist ihr Fortbestand bedroht.
Mir ist es sehr wichtig, diesen Punkt klar herüberzubringen, auch wenn oder gerade weil ich immer wieder Besucher führe, die Schlangenarmbänder und ähnliche Tierprodukte tragen. Leider stelle ich fest, dass nur wenige von ihnen – häufiger Ausländer als Peruaner, die oft eine traurige Einstellung gegenüber Tieren haben – Verständnis zeigen.

Pedro Bello
Pedro Bello

Manchmal ist ein entferntes Brüllen zu vernehmen, das manche Besucher – nach ihrem Gesichtsausdruck zu schätzen – als furchteinflössend beschreiben würden. „Das ist Pedro“, sage ich dann geheimnisvoll, „nur Geduld, ihn werden wir schon noch kennenlernen.“
Meistens ist Pedro hinten in seiner privaten Ecke, wo er von Touristen in Ruhe gelassen wird. Um ihn den Besuchern zeigen zu können, locken wir ihn mit einem Happen Fleisch zu uns. Wenn er schliesslich nach vorne schreitet, atmen die Leute in Ehrfurcht ein.
Pedro ist ein prächtiger, männlicher Jaguar. Seine Nase führt ihn auf direktem Weg zum im Maschendraht steckenden roten Stück Fleisch. Auf den Hinterbeinen stehend streckt er sich hoch und zieht es mit seinen Reisszähnen heraus. Die Fotokameras klicken. Die Leute sind erfreut.
„Hier haben wir Pedro Bello“, beginne ich mit Pedros Geschichte. „Er ist eines der ersten Tiere, das zu Gudrun kam. Eines Morgens vor zwölf Jahren fand sie ihn vor ihrer Haustüre in einer hölzernen Kiste, wo ihn Anonyme als halbjähriges Jungtier halbverhungert abgeladen hatten.
Um ihm das Leben zu retten, kümmerte sie sich mütterlich um ihn. Als zwölfjährige Grosskatze frisst er vier bis fünf Kilos rohes Fleisch, was umgerechnet um die US$ 400 pro Woche kostet. Glücklicherweise übernimmt eine grosszügige Spenderin seine Unterhaltskosten. Ansonsten könnte Gudrun ihn kaum halten.
Statt ihr staatliche Unterstützung zuzuteilen, wurde ihr vor nicht allzu langer Zeit von der Ökopolizei ein weiterer junger Jaguar gebracht, welcher ihr Budget um Weites gesprengt hätte, hätte sie ihn angenommen. Er verendete.
Obwohl sie die Möglichkeit gehabt hätte, Pedro an ein Wildlife Reserve in Arizona, USA, abzugeben, wo Pedro mit anderen Jaguaren hätte leben können, verbot ihr das die peruanische Regierung mit dem Grund, sie wollten Pedro Tests unterziehen und seine Gene sichern. So oder so ähnlich. Seither vergingen zehn Jahre ohne dass je etwas geschehen wäre. So lebt Pedro noch immer im Pilpintuwasi in seinem mehr oder weniger grosszügigen Gehege von vielleicht zwanzig auf zehn Metern. Vorgeschrieben sind in Peru, um ein Jaguar zu halten, sieben auf sieben.“

Maxi
Maxi

Langsam nähern wir uns dem Ende der Tour. Auf dem Weg zum Ausgang kommen wir bei Juanita und Maxi, unseren beiden Coatis, vorbei. Die beiden Vielfrasse aus der Familie der Waschbären liegen gerne – wenn sie nicht gerade fressen – in ihrer Hängematte auf der faulen Haut.
Die beiden ehemaligen Haustiere durften früher frei auf dem Gelände herumrennen, bevor Juanita eines Nachts in den Schmetterlingszuchtraum einbrach, um sich den Bauch mit Raupen vollzuschlagen. Sechs Monate Arbeit wurde in jener Nacht zerstört, was dazu führte, dass die Coatis von da an in einen Käfig gesperrt werden mussten.
Ab und zu darf eines der beiden an der Leine auf einen Spaziergang mit uns, was es sichtlich geniesst, die lange Nase ständig irgendwo reinsteckend. Auch sie kriegen täglich ein paar Fischchen aus dem Teich. Diese sind jeweils nach einer knappen Sekunde und wenigen Bissen vom Anblick der Erde verschwunden. Die Coatis sind Allesfresser und manchmal in Rudeln unterwegs. Die vielen buschigen Schwänze alle in die Höhe gereckt zu sehen, ist ein lustiger Anblick!

Boa Konstriktor
Boa Konstriktor

Zum Schluss zeigen wir den Besuchern die Boa Konstriktor, die meist ruhig am Boden ihres Käfigs liegt. Alle zwei bis drei Wochen bekommt die Schlange ein lebendiges Hühnchen. Das arme Opfer kann nicht aus dem Käfig fliehen und endet im festen Griff der Würgeschlange, die es schliesslich mit Haut und Federn verspeist. Faszinierend, dabei zuzuschauen.
Die, die interessiert sind, meistens sind das die männlichen Besucher, können die junge Anakonda besuchen, die sich, wie die Boa, nicht oft bewegt. Ein Unterschied zwischen den beiden: Die Boa wird bis zu drei, die Anakonda bis zu zehn Meter lang.

Wir erzählen jeweils vom Manati, das in unserem Teich lebt, obwohl nie viel von ihm zu sehen ist. Die Seekuh wird zwar bis zu 500 kg schwer, lebt aber hauptsächlich unter Wasser. Ihre Schnauze taucht nur zum Atmen und zum Fressen ihrer Wasserpflanzen auf.
„Da! Da bewegen sich die Wasserhyazinthen!“ Der Beweis, dass sie noch lebt.

 

Einige Besucher haben Glück und treffen Isabela den Grossen Ameisenbären an. Etwa acht Stunden pro Tag ist nämlich Daniel, einer der jungen peruanischen Arbeiter, mit ihr auf Ameisen- und Termitenjagd. Das heisst: Sie stöbert durch den Busch, er sitzt in der Nähe und sieht zu.
Einmal, auf meinem ersten Spaziergang mit Harry, trafen wir auf die zwei, wobei sich der neugierige Ozelot etwas zu nahe an Isabela ran wagte. Obwohl sie noch jung ist, kann Isabela mit ihren jetzt schon langen, spitzigen Krallen die Katze leicht töten. Schnell verabschiedeten wir uns wieder von Daniel und seinem Ameisenbären.
Sie ist etwa neun Monate alt und bereits ein ziemlicher Brocken. Bis sie zu ihrer vollen Grösse von über zwei Metern und einem Gewicht von 50 kg ausgewachsen ist, wir aber noch ein wenig Zeit vergehen.

 

 

Im Pilpintuwasi gibt es noch andere Tiere, die den Besuchern vorenthalten werden, zum Schutz der Tiere: Totenkopfaffen, einen Winkelbären und weitere.
Wen auch nicht alle Besucher zu sehen kriegen, ist die kleine Neytiri. Sie ist ein Spinnenaffenbaby, wenige Monate alt, und braucht ständige Aufmerksamkeit, wie ein menschlicher Säugling. Sie hat das Glück, in wenigen Tagen in ein anderes Refugium verlegt zu werden, wo sie mit anderen Spinnenaffen ausgewildert werden soll. Vor allem Secundo, Gudruns treuer Mitarbeiter, lässt das nicht kalt. Neytiri mit ihren grossen, dunklen Augen ist ihm so ans Herz gewachsen, dass er ein paar Tränen verdrücken muss, als er erfährt, dass sie nicht mehr lange sein Baby sein wird.

Spinnenaffenbaby Neytiri
Spinnenaffenbaby Neytiri

Wut und Freude

Je mehr Rundgänge ich führe, desto flüssiger laufen sie ab. Wir haben aber noch andere Aufgaben: Wir müssen Schmetterlingseier sammeln, die Larven auf ihre Futterpflanze versetzen, die Puppen einsammeln und an einen Ort hängen, Futterpflanzen im Dschungel sammeln und einpflanzen, Affen füttern, auf Britta und Neytiri aufpassen, die Schlaf(f)zimmer der Uakaris mit Futter vorbereiten, fischen, den Teich von den Pflanzenresten des Manatis befreien, und so weiter.
Seit kurzem haben wir zusätzlich eine ziemlich unangenehme Arbeit zu erledigen, was zu erklären, einer kurzen Vorgeschichte bedarf:
Gudrun errichtete das Mariposario mit Hilfe ihres Ex-Partners Roble. Er, ein Einheimischer, merkte, wie viel Geld ins Pilpintuwasi strömte ohne einzusehen, dass es knapp reichte das Pilpintuwasi zu unterhalten. Er wollte mehr für sich, was zu fortfolgenden Streitgesprächen und einer Trennung der beiden führte.
Kurzerhand baute er in den wenigen Wochen, in der Seraina und ich als Freiwillige hier arbeiteten, ein neues Schmetterlingshaus auf und eröffnete es kürzlich. Vor der Eingangstür zum Pilpintuwasi. Ohne jegliche gesetzliche Erlaubnis. Das ist aber noch nicht alles.
Um sich die Besucher zu sichern, bezahlt er die Touristenführer, damit sie die Leute zu ihm statt ins Pilpintuwasi führen. Dabei lügt er die unsicheren Besucher skrupellos an, das dies das Mariposario sei, ja, das einzige, nein, hier gäbe es keine Tiere anzuschauen.
Auch die lokale Polizei wird von Roble bezahlt, damit sie nicht einschreitet. Gudrun bringen weder die 30 Jahre in Peru etwas – sie bleibt die ewige Ausländerin in dieser Auseinandersetzung – noch will sie dieses korrupte System oder die untreuen Führer unterstützen.
Wir Volontäre versuchen zu helfen, indem wir am Eingang stehen und probieren, die ankommenden Besucher abzufangen. Schon in diesen ersten Tagen bekommen wir den Verlust an Einnahmen zu spüren. Wir sind froh, wenn wir einige Leute abzwacken können, aber schon nach kurzem stellen wir fest, dass diese Versuche alleine das Pilpintuwasi nicht retten können. Wir sind alle stinkwütend und verzweifelt. Niemand scheint eine Lösung zu haben. Wir berichten die Situation der Touristeninformation wie auch der Polizei in Iquitos; ohne sichtlichen Erfolg.
An unserem letzten Tag in der Auffangsstation haben wir kaum noch Besucher, eine ohnmächtige Rage überkommt uns. Was können wir machen? Gudrun muss die Führer ebenfalls bezahlen, wenn sie ihr Touristen bringen sollen. Aber diesem Abschaum, der sich bei uns Freiwilligen als gute Freunde einschleimen wollte, noch zusätzlich Geld geben? Bringt die Anzeige bei der Polizei etwas? Denn Robles Geschäft – bei ihm ist es nichts anderes als ein einträgliches Geschäft, er muss keine Tiere durchfüttern – ist illegal und wird aufgrund seines Standorts auch nie bewilligt werden; es sei denn, er kann den Behörden genug bezahlen.
Wir sind ratlos und müssen diesen Ort etwas zwiegespalten verlassen. So viele hässliche Geschichten mussten wir hören, so viel Heuchelei und Oberflächlichkeit erleben. Und das an diesem schönen Ort.
Trotzdem verabschieden wir uns herzlich von Gudrun, Dan, Tony, Kathy und den Mitarbeitern. Unsere Reise geht weiter. Nicht wie zuerst gedacht weiter Richtung Süden, sondern den Amazonas hinunter nach Leticia, zurück nach Kolumbien.

Auf dem Amazonas zurück nach Kolumbien

Auf dem Amazonas
Auf dem Amazonas

Um zwei Uhr nachmittags sind wir am Hafen und ergattern uns einen idealen Platz auf der Fähre, um unsere Hängematten aufzuhängen. Den restlichen Tag verbringen wir damit, den Menschen zuzuschauen. Passagiere, die sich für die Reise einrichten, Verkäufer, die von Hängematten bis Mandarinen alles Mögliche verkaufen, die Schiffscrew.
Als es eindunkelt, liegen wir immer noch im Hafen. Es scheint alles an Bord zu sein, neben Menschen werden allerlei Baumaterial, Wasser und andere Getränke transportiert, die in irgendwelche Dorfgemeinden am Amazonas geliefert werden. Wir wissen nicht, worauf noch gewartet wird.
Um elf Uhr nachts sind wir endlich unterwegs, zwei Nächte, eineinhalb Tage lang. Ich schlafe recht gut in meiner Hängematte. Die Zeit vergeht schnell. Wir verbringen sie mit lesen, Musik hören, Gesprächen, während wir gemächlich den Amazonas hinuntergleiten.
Ab und zu halten wir in einem Dorf, manchmal könnte man es fast Stadt nennen, draussen im Nirgendwo, laden auf und ab und machen uns wieder auf den Weg.
Manchmal regnet es in Strömen, oft scheint die Sonne. Wir beobachten graue und rosa Flussdelfine beim Spielen, essen Reis mit Fleisch – zwei kleine Gerichte sind im Fahrtpreis enthalten – warten, schauen, sind.
Mittags des zweiten Tages kommen wir in Santa Rosa, Peru, an. Ich schaue auf die andere Seite des breiten Flusses. Da drüben befindet sich Tabatinga, Brasilien. Daneben unser Ziel: Leticia, Kolumbien.
Das Dreiländereck mitten im Dschungel ist beliebt für Reisende, die wie wir von Iquitos kommen. Manche fahren gleich weiter, vier bis fünf Tage lang, nach Manaus. Oder fliegen, da es keine richtige Strassenverbindung ins Innere Kolumbiens gibt, nach Bogota.
Per Boot erreichen wir von Santa Rosa aus Leticia und müssen, nachdem eine zahlbare Unterkunft gefunden ist – Kolumbien ist gleich wieder ein gutes Stück teurer als Peru –, zum nahen Flughafen fahren; die einzige Möglichkeit, hier einen Einreisestempel zu erhalten.
Leticia ist klein und leicht zu Fuss erkundbar. Damit wir auch mal in Brasilien waren, spazieren wir nach Tabatinga rüber. Die Flagge ist nicht die gleiche, und man spricht portugiesisch – ansonsten stellen wir keine grossen Unterschiede zwischen den beiden Orten fest.
Zurück in Leticia fiebert Seraina vor sich hin, ich ziehe mir eine Erkältung zu, wohl wegen dem Ventilator und der gleichzeitigen ewigen Hitze.
Da wir hier im Amazonas sind, wo hohe Ansteckungsgefahr mit Dengue und Malaria herrscht, gehen wir sicherheitshalber ins Krankenhaus.
Seraina unterzieht sich einem Bluttest. Nach endlosem Warten steht fest: Dengue positiv. Auch das noch. Morgen wollen wir nach Santa Marta weiterfliegen. Der Arzt verschreibt Seraina Acetaminofen gegen das hohe Fieber und rehydrierende Salzlösungen, die sie täglich mit literweise Wasser trinken muss. Ein eigentliches Medikament gegen den Virus existiert nicht. Man muss vor allem dafür sorgen, viel zu trinken, damit man nicht austrocknet.
Am nächsten Abend landen wir ausgelaugt an der karibischen Küste und fahren ins Hostel, wo wir beide gleichzeitig frieren und schwitzen. In Santa Marta sind die Nächte fast unerträglich heiss.
Einen Tag später seucht Seraina noch immer vor sich hin. Sechs Liter Wasser sind schnell an einem Tag verschwunden.
Ich telefoniere mit Mauricio in Bogota. Er ist ein Spezialist was Dengue betrifft und rät uns beiden, viel zu trinken und die nächsten Tage zu ruhen. Und sicher keine Medikamente gegen Grippe oder Kopfschmerzen einzunehmen. Kein Aspirin, kein Neocitran oder ähnliches, da dies den Körper an der Heilung hindert.
Jeden zweiten Tag geht es Seraina besser, nur um an jedem Tag dazwischen mit sehr hohem Fieber ans Bett gefesselt zu leiden. Nach einer Woche in Santa Marta, wo wir von Levi und Ella im Hostel fürsorglichst behandelt werden, haben wir genug von der Hitze und der Stadt und fahren nach Palomino, um nach unserem Land zu schauen.
In derselben Nacht geht es Seraina äusserst mies. Sie fiebert, zittert, brennt am ganzen Körper. Ich schätze, 40 Grad Fieber müssen das Minimum sein. Irgendwie geht auch die Nacht vorbei. Wir fahren ins nächste Spital, das in Dibulla, ein paar Dörfer weiter, liegt. Nach einem weiteren Test und langem Warten bekommt sie ihre Diagnose: Seraina leidet nicht an Dengue, das innerhalb drei bis fünf Tagen hätte verschwunden sein müssen, sondern an Malaria!
Kostenlos werden ihr nach elf Tagen endlich die richtigen Medikamente verschrieben, die ihren Zustand sofort verbessern. Weitere zehn Tage muss sie diese einnehmen, damit der Parasit im Blut hundertprozentig getilgt wird.
Keine Ahnung, was mich vor ein paar Tagen kurz erwischt hat, vielleicht eine Grippe oder ein sonstiger Wurm, auf jeden Fall blieb ich von Malaria verschont, was ein späterer Test beweist.

 

Es ist WM-Zeit in Brasilien und der ganzen Welt. Ich bringe sogar Seraina dazu, mit mir Fussball zu schauen. Die Euphorie fehlt mir jedoch sehr in Kolumbien. Gerademal wenn ihr Team spielt, ist sie zu verspüren. Ansonsten ist es manchmal schwer, andere Spiele zu schauen. Einerseits weil das kolumbianische Nationalfernsehen nur vierzig der fünfundsechzig Spiele ausstrahlt, andererseits geht in Palomino öfters unverhofft der Strom aus.
Es gibt aber auch zu tun in Palomino. Wir überlegen, was sich lohnt, jetzt schon auf unserem Land zu erledigen. Wir pflanzen ein paar Fruchtbäume mit der Hoffnung, dass sie bei unserer Rückkehr in eineinhalb Jahren schon etwas gewachsen sind. Ein Stacheldrahtzaun muss her, um die Grundstücksgrenzen klar abzustecken. Am Ende entschliessen wir uns, alles andere auf das nächste Mal zu verschieben.
Unserem australischen Nachbar Nat helfen wir, eine Art Bambuszaun um sein Land zu errichten. Er beginnt demnächst mit seinem Hausbauprojekt, wofür er sich eine grosszügige Heimwerker-Werkstatt eingerichtet hat. Beeindruckend, wie viele Werkzeuge er sich leistet.
Er plant, in vier bis fünf Monaten sein Cabaña aufgestellt zu haben. Wir vermitteln ihm Rowan, ebenfalls Australier, den wir kürzlich auf unserem Campingplatz kennengelernt haben. Die beiden scheinen augenblicklich ein grossartiges Team abzugeben.
Nats gute Freundin Karina, die gegenüber lebt, hat wohl unsere Zaunarbeit bei Nat Eindruck gemacht. Sie engagiert uns ebenfalls, um ihren Zaun zu erneuern.
Das Problem hier ist, das man zwar haufenweise einheimische Arbeiter findet – sie drängen sich fast auf –; sie sind leider einfach unzuverlässig und nur am schnellen Geld interessiert. Was dabei rauskommt, ist teure schlechte Arbeit und unnötigen Zeitverlust. Vor allem aber büsst man seine Nerven ein. Wir haben das zuhauf in Padre Cocha erlebt und müssen es auch hier wieder feststellen.
Nat hat die Lösung zu diesem Problem: Freiwillige Helfer, hauptsächlich Reisende wie wir, anstellen, die gute Arbeit leisten wollen.
Nat ist für uns eine Art Versuchskaninchen. Wir sehen, was in eineinhalb Jahren auf uns zukommt. Durch seine Erfahrungen wird es uns hoffentlich möglich sein, einige Fehler zu vermeiden, die er machen musste. Zusätzlich weiss er schon sehr gut Bescheid, welche Hölzer wofür zu benutzen sind, wo man sie für welche Preise bekommt und kann uns viele hilfreiche Informationen über das Bauen in Palomino liefern.
Wir können uns glücklich schätzen, einen so guten Freundeskreis gefunden zu haben, der uns ein Gefühl von „zu Hause sein“ vermittelt. Karina bekocht uns fürstlich –  das ständige lokale Reis mit Fleisch hat man manchmal einfach satt –, während wir mit Hilfe argentinischer Freunde, die wir in Santa Marta im Hostel kennengelernt haben, Löcher graben, Pfosten einsetzen, Wunden reissenden Stacheldraht verlegen und die „caña boa“-Stecken zu einem dichten Zaun verdrahten, um etwas Privatsphäre von den neugierigen Nachbarn herzustellen. Denn die kommen oft uneingeladen vorbei, setzen sich zu dir, um... nun, um zu plaudern oder einfach zuzuschauen, was du gerade so tust. Üblich in Dörfern wie Palomino, kann das für uns „Westler“ etwas anstrengend werden.
Juni und Juli vergehen schnell. Neben Palomino fahren wir auch wieder zurück nach Santa Marta, um unsere neuen guten Freunde im Hostel zu besuchen. Auch Miguel im nahen Taganga statten wir ab und zu einen Besuch ab.
Wie eine der erfrischenden Böen in ausgetrockneten Taganga – seit acht Monaten hat es nicht mehr geregnet! – verfliegt die Zeit, wir haben den ersten August, und Serainas Schwester Tabea geniesst mit uns ein kühles Bier am Strand. Für ein paar Wochen können wir ihr ein paar Eindrücke von unserem Leben an der kolumbianischen Küste vermitteln. Und wie dankt sie uns das? Mit kiloweise frisch importiertem Käse und Schokolade aus der Schweiz! Mmmh, merci vielmals, Bäse! Das zaubert nicht nur uns sondern auch unseren kolumbianischen, argentinischen, australischen, rumänischen, polnischen Freunden ein breites Lächeln ins Gesicht.

Tabea zu Besuch in Santa Marta
Tabea zu Besuch in Santa Marta