Im Paradies von Río Claro - 7. Oktober 13

Nach ein paar Telefonaten kommt am Abend mein und am Sonntag Morgen schliesslich auch Serainas Rucksack bei uns an. Wir beschliessen, nicht länger in der Stadt zu verweilen und fahren am nächsten Tag ins zwischen Bogotá und Medellin liegenden Reserva del Cañón de Río Claro.
Wir finden ein kleines Paradies vor, das wir fast für uns allein haben. Nachdem wir das Zelt an einer idealen Stelle aufgestellt haben, wandern wir den Flusslauf hinauf. Reservas sind private Naturgelände im Gegensatz zu den staatlichen Nationalparks. Von beiden gibt es nicht wenige in Kolumbien.
Die Wege und Cabaña-Anlagen wirken gepflegt. Es werden Aktivitäten wie River Rafting, Höhlen- und Canopy-Tours angeboten. Wir sind froh, nicht an einem Wochenende hier angekommen zu sein, wenn alle Städtler herströmen.
Heute treffen wir nur auf wenige Leute, die am sich durch den Regenwald schlängelnden Rio Claro fischen und spazieren. Auf dem Weg untersuchen wir Stalaktiten und Stalakmiten, in denen sich grosse Spinnen komforttable Netze gebaut haben. Auf der anderen Flussseite sehen wir eine Höhle, aus der ein Wasserfall herausschiesst. Die will ich mir näher anschauen.
Mit Licht und Kamera in Plastikbeuteln verpackt schwimme ich hinüber. Ich klettere die am Höhleneingang angebrachte Strickleiter hinauf. Zu spät merke ich, dass sie nicht richtig hält. Mit Plastikbeutel im Mund und mich an die Stricke klammernd knalle ich an den Fels. Irgendwie schaffe ich es mit offenem Knie den Wasserfall hoch und in die Höhle hinein. Unschlüssig stehe ich in einem kleinen Pool und blicke in die Dunkelheit, hinter mir rauscht das Wasser in den Fluss.
Ich wate ein wenig weiter, leuchte mit meinem unzureichenden Lämpchen um die Ecke und sehe noch gleichviel wie zuvor. Das Wasser kommt von oben herab, es muss Stufen geben, die man hochklettern kann. Aber in dieser Dunkelheit? Ich blitze mit meiner Kamera in den schwarzen Schlund hinein. Glitschige Wände leuchten auf. Ich komme mir vor, wie im Innern eines Wurms.
Plötzlich Gekrächze. Etwas Grosses, Schwarzes schiesst von der Decke herab und verschwindet im Rachen der Höhle.
Das Gekreische wird mehrstimmig und immer lauter. Vielleicht bilde ich mir das nur ein, will ich meine Nerven beschwichtigen, aber diese Fledermäuse klingen verärgert. Eiligst mache ich kehrt, stürze die Strickleiter hinab in den Fluss, wo die ungemein starke Strömung mich zum Untergang zwingen will, klettere die letzten Meter aus dem Wasser in Sicherheit. Und lache über mich selber: Du hast zu viele Filme gesehen! Keine Fledermaus will dich auffressen! Gut, diese Höhlenexpedition ist wohl ins Wasser gefallen.
Auf dem Rückweg zum Zeltplatz folgen wir einem fast unerkennbaren Schild mit der Aufschrift: „Hospedaje y Servicio de Restaurant" , und quer darüber: „Camping“. Wir steigen eine gefährlich steile Treppe empor und entdecken hinter verwachsenen Bäumen eine einfache Hütte. Ein Waran schiesst an uns vorbei ins hohe Gras aus unserem Blickfeld. Dann steht Martín in der Tür und lacht uns zu: „Buenos Dias! Soy Martín, a la orden!“ Wie soll ich ihn beschreiben? Ein fünfzigjähriger Afro-Kolumbianer in ausgetragener, kurzer Kleidung und wenigen Haaren auf dem Kopf. Er könnte ein Fischer aus der Karibik sein.
Stattdessen heisst er uns willkommen in seinem bescheidenen Heim mitten im Dschungel und kocht uns ein köstliches Mahl. Wir plaudern ein wenig und versprechen, wieder zu kommen. „Simón! Mucho gusto. Ciao mamita linda!“, verabschiedet er uns gut gelaunt. Mit meinem Namen hat hier niemand Mühe, ist es ja eine ausdrucksstarke Bejahung. Seraina hingegen kann sich kaum jemand merken. Auch Martín muss sich den Namen zuerst aufschreiben - dann lässt er ihn sich genüsslich auf der Zunge zergehen. Satt und glücklich kehren wir zum Zeltplatz zurück.

Die darauffolgenden Tage gestalten sich ruhig. Wir kochen am Feuer, lesen, stricken, spielen Didgeridoo, beobachten kleine flinke Affen, gehen spazieren. Zwischendurch müssen wir das Zelt und unsere Sachen zum Trocknen auslegen. Jede Nacht regnet es. Manchmal sind es nur ein paar Regentropfen, in ein oder zwei Nächten aber ziehen Gewitter vorbei, die es in sich haben. Blitze schlagen ganz in der Nähe ein, ein Ast verfehlt unser Zelt nur knapp. Am nächsten Morgen scheint die Sonne wieder, als wäre nichts geschehen. Nur dem Fluss sieht man an, was alles runtergekommen ist. Río Claro ist nunmehr ein reissender brauner Strom.
Immer weiter zögern wir unsere Abreise hinaus. Dann kommt aber das Wochenende und mit ihm die Menschenmassen. Was wir nicht wussten: Diese Woche ging das Schuljahr zu Ende und ganz Kolumbien feiert ein verlängertes Wochenende. Zuerst haben wir das Gefühl, dass wirs schon durchstehen würden. Dann aber sehen wir unser Zelt umringt von feiernden kolumbianischen Familien und Studenten. Unser kleines stilles Paradies - zertrümmert. Der früh am Abend einsetzende Regen bestätigt uns.